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Beim heiligen Valentin

von Isaak Babel

 

Unsere Division besetzte gestern abend Beresteczko. Der Stab nahm im Haus des Pfarrers Tuzynkiewicz Quartier. Als Frau verkleidet, war Tuzynkiewicz vor dem Einmarsch unserer Truppen aus Beresteczko geflohen. Ich weiß von ihm, dass er es fünfundvierzig Jahre in Beresteczko mit Gott gehalten hatte und dass er ein guter Pfarrer gewesen war. Wenn die Einwohner wollen, dass wir das verstehen, dann sagen sie: die Juden liebten ihn. Unter Tuzynkiewicz wurde die alte Kirche renoviert. Die Instandsetzung war am Tag des dreihundertjährigen Bestehens des Doms abgeschlossen. Der Bischof kam damals eigens aus Zitomir. Prälaten in seidenen Gewändern hielten vor der Kirche eine Andacht ab. Dickbäuchig und gnädig standen sie da, wie Glocken im tauigen Gras. Aus den umgebenden Dörfern flossen die Ströme der Unterwürfigkeit. Die Bauernschaft beugte das Knie, küsste die Hände, und im Himmel flammten an jenem Tage Wolken auf, wie sie keiner je zuvor gesehen hatte. Himmlische Flaggen wehten der alten Kirche zu Ehren. Der Bischof küsste Tuzynkiewicz höchstselbst auf die Stirn und nannte ihn den Vater von Beresteczko, »pater Bérestechka«.

Diese Geschichte erfuhr ich morgens im Stab, wo ich die Berichte unseres Kontrolltrupps durchging, der Lwów im Kreis Radziechów auskundschaftete. Ich las Papiere, während das Schnarchen der Meldereiter in meinem Rücken von unserer endlosen Unbehaustheit erzählte. Die Schreiber, schweißnass vom fehlenden Schlaf, schrieben Befehle an die Divisionen, aßen Gurken und niesten. Erst zum Mittag konnte ich mich freimachen, ging zum Fenster und sah den Tempel von Beresteczko, den gewaltigen und weißen. Er leuchtete in der wärmenden Sonne wie ein Turm aus Fayence. Die Blitze des Mittags funkelten auf seinen glänzenden Flanken. Ihre gezackten Linien begannen am altertümlichen Grün der Kuppel und liefen leichtfüßig nach unten. Rosige Adern schwelten im weißen Stein des Vordergiebels, doch auf dem Dachfirst waren die Kolonnaden so dünn wie Kerzen.

Dann erstaunte der Gesang der Orgel mein Gehör und fast im selben Moment erschien in der Tür des Stabes eine alte Frau mit aufgelösten blonden Haaren. Sie bewegte sich wie eine Hündin mit verletzter Pfote, drehte sich im Kreis und fiel zu Boden. Ihre Pupillen waren mit der weißen Flüssigkeit der Blindheit gefüllt und verspritzten Tränen. Die Klänge der Orgel, mal getragen, mal übereilt, flossen zu uns herüber. Ihr Flug war mühevoll, bedauernswert und lange schepperte es nach. Die Alte wischte sich die Tränen mit ihren blonden Haaren, setzte sich auf den Boden und begann meine Stiefel unterhalb der Knie zu küssen. Die Orgel verstummte und begann dann in den Bassnoten loszulachen. Ich nahm die Alte bei der Hand und schaute mich um. Die Schreiber hämmerten auf den Maschinen, das Schnarchen der Meldereiter schwoll an wie die Flut, ihre Sporen zerschnitten den Filz unter den Altasauflagen der Diwane. Die Alte küsste meine Stiefel voller Zärtlichkeit und umklammerte sie wie ein Kleinkind. Ich zerrte sie zum Ausgang und verriegelte hinter mir die Tür. Die Kirche erhob sich vor uns wie das Trugbild einer Dekoration. Die Pforte des Seitenschiffs war geöffnet, und auf den Gräbern polnischer Offiziere lümmelten sich die Pferdeschädel.

Wir rannten über den Hof, durchquerten einen dunklen Korridor und kamen in ein quadratisches Zimmer, ein Anbau zum Altar. Hier schaltete und waltete Saschka, die Krankenschwester des 31. Zuges. Sie wühlte in Seidenstoffen, die jemand zu Boden geworfen hatte. Das tödliche Aroma von Brokat, verstreuten Blumen, wohlriechender Fäulnis floss in ihre zitternden Nüstern, zwitschernd und verführerisch. Dann kamen Kosaken ins Zimmer. Sie lachten laut auf, nahmen Saschka bei der Hand und stürzten sich mit Schwung in den Berg von Materialien und Büchern. Saschkas Körper, blühend und stinkend, wie das Fleisch einer gerade geschlachteten Kuh, entblätterte sich, der hochgeschobene Rock legte die Beine der Eskadronsdame frei, gusseiserne, gut gebaute Beine und Kurdjukov, ein beschränkter Knabe, schwang sich auf Saschka und wiegte sich wie im Sattel, wobei er so tat, als hätte die Leidenschaft ihn erfasst. Sie warf ihn ab und rannte zur Tür. Und erst da, am Altar vorbei, gelangten wir in die Kirche.

Sie war von Licht erfüllt, diese Kirche, erfüllt von tanzenden Strahlen, von Luftsäulen, von irgend einer erfrischenden Fröhlichkeit. Wie sollte ich das Bild vergessen, das im rechten Seitenschiff hing und das Apolek gemalt hatte. Auf diesem Bild schaukelten zwölf rosige Pater die Wiege eines in Bänder gewickelten, dicklichen Jesuskindes. Seine Fußzehen sind abgespreizt, sein Körper mit heißem Morgenschweiß überlackiert. Das Kindlein strampelte auf seinem feisten Rücken, gegen die faltenbedeckte Rückenlehne gedrückt, zwölf Apostel mit Kardinalstiaren beugten sich über die Krippe. Ihre Gesichter sind bis zum Blauschimmer rasiert, ihre flammenden Umhänge springen über den Bäuchen hervor. Die Augen der Apostel leuchten weise, entschlossen, voller Fröhlichkeit, über die Mundwinkel wandert ein feines Gelächter, auf ihre Doppelkinne sind feurige Bärtchen gesetzt, himbeerfarbene Bärtchen, wie Radieschen im Mai.

In diesem Dom von Beresteczko gab es einen ganz eigenen, einen verführerischen Blickwinkel auf die tödlichen Leiden der Menschensöhne. In diesem Dom gingen die Heiligen zum Richtplatz mit der Affektion italienischer Sänger, und die schwarzen Haare der Scharfrichter glänzten wie der Bart des Holofernes. Hier sah ich auch über dem Eingang zum Allerheiligsten eine liederliche Darstellung des Johannes, die ebenfalls der häretischen und hinreißenden Hand Apoleks gehörte. Auf dieser Darstellung war der Täufer von solch einer doppeldeutigen, unausgesprochenen Schönheit, wegen der die Schuldner der Könige ihre zur Hälfte verlorene Ehre verlieren und das erblühende Leben.

Zuerst bemerkte ich die Spuren der Zerstörung im Tempel nicht, oder sie erschienen mir nicht bedeutend. Nur der Schrein des heiligen Valentin war zerschlagen. Fetzen von herausgezogener Watte lagen unter ihm herum und die lachhaften Knochen des Heiligen, die höchstens an Hühnerknochen erinnerten. Und Afon'ka Bida spielte noch auf der Orgel. Er war betrunken, der Afon'ka, war wild und zerschlagen. Erst gestern war er zu uns mit einem Pferd zurückgekehrt, das er bei Bauern requiriert hatte. Afon'ka war aufrichtig bemüht, der Orgel einen Marsch zu entlocken, und jemand sagte ihm mit schläfriger Stimme: »Gib's auf, Afonja, wir wollen futtern gehen«. Aber der Kosak hörte nicht auf: es gab ihrer viele, der Lieder, die er kannte. Jeder Ton war ein Lied, und jeder Ton war vom anderen separiert. Ein Lied – seine gesamte Melodie – dauerte nur einen Augenblick und ging dann in ein anderes über … Ich hörte zu, schaute mich um, die Spuren der Zerstörung schienen mir unbedeutend. Doch so dachte nicht Pan Ljudomirskij, der Glöckner der Kirche des heiligen Valentin und der Ehemann der blinden Greisin.

Ljudomirskij war unter irgend einem Stein hervorgekrochen. Er kam in die Kirche mit gesenktem Haupt und gleichmäßigen Schritten. Der Alte war nicht geneigt, den Deckmantel über die verstreuten Reliquien zu werfen, weil es Menschen einfacher Herkunft nicht erlaubt ist, das Heilige zu berühren. Der Glöckner fiel auf die blauen Bodenfliesen, hob den Kopf und seine hellblaue Nase stieg empor, wie die Flagge über einem Toten. Seine hellblaue Nase flatterte über ihm, und in diesem Moment rührte sich der Atlasvorhang am Altar und glitt zitternd zur Seite. In der Tiefe der sich öffnenden Nische, am Himmelsgrund, der von Gewitterwolken durchzogen wurde, flüchtete eine bärtige Figur in orangener Kontusche – barfüßig, mit gespaltenem, blutbedecktem Mund. Ein dünner Schrei zerriss darauf unser Ohr. Der Mann in der orangenen Kontusche wurde von Hass verfolgt und von seinen Verfolgern eingeholt. Er hielt den Arm hoch, um einen Schlag abzufangen, der gegen ihn gerichtet war, aus dem Arm floss das Blut in purpurnen Strömen. Das Kosaklein, das neben mir stand, schrie auf, und wandte sich mit gesenktem Kopf zur Flucht, obwohl es keinen Grund zur Flucht gab, denn die Figur in der Nische war lediglich Jesus Christus – die seltsamste Darstellung Gottes, die ich je in meinem Leben gesehen hatte.

Pan Ljudomirskijs Erlöser war ein lockiger Jude mit strähnigem Bärtchen und einer niedrigen, gerunzelten Stirn. Seine eingefallenen Wangen waren karminrot gepudert, über den vor Schmerz zusammengekniffenen Augen krümmten sich dünne, rothaarige Brauen.

Der Mund war gespalten wie die Lippe eines Pferds, die polnische Kontusche wurde von einem kostbaren Gürtel zusammengehalten und unter dem Kaftan zeigten sich schmerzgekrümmte, bemalte Porzellanfüßchen, nackt, von silbernen Nägeln durchschlagen.

Pan Ljudomirskij stand im grünen Mantel unter der Statue. Er streckte seinen vertrockneten Arm über uns aus und verfluchte uns. Die Kosaken rissen die Augen auf und entwirrten ihre strohigen Haarschöpfe. Mit donnernder Stimme sprach der Glöckner der Kirche des heiligen Valentin das Anathema über uns aus, im reinsten Latein. Dann wandte er sich ab, fiel auf die Knie und umfing die Beine des Erlösers.

Nachdem ich in den Stab zurückgekehrt war, schrieb ich dem Befehlshaber der Division einen Rapport über die Verletzung der religiösen Gefühle bei der örtlichen Bevölkerung. Es wurde befohlen, die Kirche zu schließen, die Schuldigen, die sich einem Disziplinarverfahren zu unterziehen hatten, wurden dem Richter eines Kriegstribunals übergeben.

Beresteczko, August 1920

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Übersetzung: Eric Boerner • © Illeguan 2001