Vladislav Chodasevic
Chodasevic: Ueber Majakovskij
Es ist unvergleichlich peinlich, wenn Chodasevič, ein Literaturpartizipant, das Spülwasser von Schimpf und Lügen auf den toten Dichter ausgießt. Seinen besonderen Einfluss kennt er gut und weiß, dass er verleumderisch einen der größten russischen Dichter beschimpft. Und wenn er stichelt, dass Majakovskij alles in allem nur fünfzehn Jahre des Schaffens zuteil wurden – »ein Pferdeleben« – so ist dies doch eine Selbstbeschmutzung, das Pasquill eines Halunken, eine Verspottung der tragischen Bilanz der eigenen Generation. Die Bilanz Majakovskijs hieß – »Mit dem Leben bin ich quitt«; das unansehnliche Schicksälchen von Chodasevič ist dagegen – »die schrecklichste der Amortisationen, die Amortisation des Herzens und der Seele«.

Roman Jakobson: Von einer Generation,
die ihre Dichter vergeudet hat. 1930

Vladislav Chodasevičs unbarmherziger Nachruf auf Majakovskij
ist gleichzeitig eine erbitterte Kampfansage an die Ästhetik des
Futurismus. Ein Meisterwerk der Polemik, dessen grundsätzliche
Aussagen heute vielleicht aktueller sind, als zum Zeitpunkt
des Erscheinens.

 

 

Die Geschichte ist ein Fortschreiten im Kampf. Wie glücklich sind doch jene erhabenen Epochen zu nennen, als man über den Gräbern einstiger Widersacher ehrfürchtig das Haupt und die Fahnen senken konnte. Unserem Schicksal war ein solches Glück nicht beschieden. Vor den Gräbern Lenins, Azefs und Dzeržinskijs können wir uns nicht verneigen. Unser schweres Los ist es, gegen gefährliche und übermächtige, aber nichtswürdige Feinde kämpfen zu müssen: gerade in ihrer Nichtswürdigkeit steckt ihre besondere Stärke. Und das gerade auf, so mochte es scheinen, unbefleckten Gebieten, wie dem der Dichtung. Vor unserer Zeit bekämpften sich in der Dichtung verschiedene Wahrheiten, die eine überwand die andere, das eine Gute wurde von einem anderen abgelöst. Den Gegnern fiel es leicht, sich gegenseitig zu achten. Doch in unserer Zeit stieß gerade auf diesem Gebiet die Wahrheit mit der Lüge selbst zusammen, hinter dem Rücken der Feinde steht keine andere Spielart des Guten, sondern das Böse selbst. Achtzehn Jahre lang, vom ersten Tag seines Erscheinens, entspann sich meine literarische (durchaus nicht persönliche) Feindschaft mit Majakovskij. Und plötzlich gibt es Majakovskij nicht mehr. Woher aber soll ich die Ehrfurcht vor seinem Andenken nehmen?

* * *

Der russische Futurismus teilte sich von Anfang an in zwei Lager auf: dem ego-futuristischen, das Igor Severjanin einleitete, und dem futuristischen ohne Beifügung, an dessen Spitze der verstorbene V. Chlebnikov, Kručënych und David Burljuk mit seinen beiden Brüdern standen. Ansichten, Ziele und selbst die Herkunft dieser beiden Lager waren unterschiedlich. Es verband sie lediglich die Bezeichnung, die sie von den Italienern übernahmen. Im Grunde war sie ihnen sehr willkürlich angeheftet worden; besonders dem Lager Severjanins, das wir im übrigen aber in Ruhe lassen wollen: es besitzt keinen Bezug zu unserem Thema.

Die Gruppe Chlebnikovs und Kručënychs basierte auf einer scharfen Trennung von Form und Inhalt. Die Frage der Form schien ihnen nicht nur grundlegend zu sein, sondern sogar die einzige, die in der Dichtung überhaupt existierte. Das trieb die Futuristen natürlich zu einer Suche nach einer selbstständigen, autonomen, oder, wie sie es ausdrückten, »selbstbezogenen Form«, die gerade zur Bekräftigung und zum Beweis ihrer »Selbstbezogenheit« mit allen Mitteln von jeglichem Inhalt befreit werden musste. Dies führte in der Folge zunächst zu sinnlosen Wortverbindungen, und dann, mit der gleichen Folgerichtigkeit, zur Ausrufung des »selbstbezogenen Wortes« – eines Wortes, das von jeglichem kognitiven Inhalt befreit sein sollte. Dieses selbstbezogene Wort wurde auch zum einzigen rechtmäßigen Material der Dichtung erklärt. Hier erreichte der Futurismus seine letzte, aus seiner Sicht logische Schlussfolgerung: die sogenannte »transmentale Sprache«, deren Vater Kručënych war. In dieser Sprache begannen die Futuristen zunächst auch zu schreiben, doch sie wurden ihrer schnell wieder überdrüssig. Die sinnentleerten Wortverbindungen unterschieden sich im Grunde durch nichts voneinander. Nachdem das klassische »Dyr bul ščyl« geschrieben worden war, gab es schon nichts mehr zu schreiben: alles weitere hätte nichts anderes als eine Wiederholung dargestellt. Ende 1912 oder Anfang 1913 war der gesamte Weg des Futurismus bereits durchschritten. Eigentlich blieb nur noch das Schweigen übrig.

In dieser Zeit, auf den Abenden der Freien Ästhetik, erschien ein riesiger Jüngling von 19 Jahren, mit löchrigen Stiefeln, im schwarzen Lüsterhemd, das fast bis zum Gürtel offenstand, mit pferdeähnlichen Kiefern und hungrigen Augen, in denen unablässig eine außergewöhnliche Schüchternheit und eine bösartige Gemeinheit miteinander spielten. Es handelte sich um Vladimir Majakovskij, einem Zögling der Schule für Malerei und Bildhauerkunst. Die meiste Zeit schwieg er, und wenn er den Mund aufmachte, dann nur, um mit dumpfer Stimme und vor Angst zitternden Lippen irgendeine verzweifelte Gemeinheit hervorzustoßen. Frauen betrachtete er mit einer ungezügelten Gier.

Majakovskij stieß zu den Futuristen. In der ersten Zeit trat er unter ihnen durch keine Besonderheit in Erscheinung:

Straße –
Gelasse des Fahrens Jahres schnittig.

Das war gemäßigter als »dyr bul ščyl«, aber in demselben Geiste. Bald jedoch, ohne äußerlich mit ihr zu brechen, änderte Majakovskij die Gruppe tiefgreifend, im Kern. Wie bei allen heimlichen und tiefgreifenden Verwandlungen, so handelte es sich auch hierbei vor allem um eine Unterwanderung.

Majakovskij hatte schnell begriffen, dass die transmentale Dichtung einen Hamster im Laufrad darstellte. Da er aber ein zweckorientierter und unersättlicher Wilder war, – im Unterschied zum halbgebildeten Visionär Chlebnikov (den irgend jemand einen genialen Kretin genannt hat: Züge des Genialen besaß er tatsächlich, obwohl die des Kretins überwogen), zum tumben Theoretiker und Doktrinär Kručënych, zum unglücklichen Spaßvogel Burljuk – hatte er natürlich mit dem »Transmentalen« wenig am Hut. Und so, ohne es offen anzukündigen, ohne mit den Anführern der Gruppe zu streiten, führte Majakovskij ohne weitere Erörterungen, in der Praxis seiner Gedichte, einen Kampf gegen den Inhalt (gegen jeglichen Inhalt), indem er ihn vergröberte. Im Verhältnis zur herrschenden Idee der Gruppe handelte es sich hierbei um eine vollständige Kehrtwendung von einhundertundachtzig Grad. Unbemerkt führte Majakovskij eine entschlossene Konterrevolution inmitten der Revolution Chlebnikovs durch. Im eigentlichen Ursprung, in dem Punkte, in dem das gesamte Pathos, der gesamte unsinnige Sinn von Chlebnikovs Revolte beschlossen lag, im Kampf gegen den Inhalt, – ging Majakovskij schlimmer vor als alle Versöhnler: er schloss keinen Kompromiss, er kapitulierte. Es gab bei den Futuristen eine bestimmte Form der Nibelungentreue: sie gingen bis zum Ende. Majakovskij ging nicht nur nicht mit ihnen, nahm nicht nur nicht an ihrem Untergang teil, sondern er reüssierte. Er vernichtete alles, in dessen Namen ihm das Banner des Umschwungs übergeben worden war, aber er übertrug sozusagen das Kapital des Futurismus, dessen Reklamewirkung, auf seinen Namen, bewahrte den Ruhm eines Neuerers und Revolutionärs in der Dichtung.

* * *

Die transmentale Dichtung, der »Zaum«, bezeugte die ausgeprägte geistige Leere der Futuristen. Doch was für ein erschreckendes Symptom sie auch immer darstellte, so drückte sich in ihr doch etwas unendlich grundlegenderes in ästhetischer Beziehung aus, als in der Poetik Majakovskijs. Majakovskij trat alle ästhetischen Anstrengungen der Futuristen mit Füßen. Seine Ästhetik war mehr als gemäßigt: in allem hing sie mit der vorhergehenden Dichtung zusammen. Wenn Chlebnikov, Brjusov, Whitman, Blok, Andrej Belyj, Gippius, ja selbst die Jahrmarktsschreier, Majakovskij das entrissen, was er von ihnen genommen hat, – von ihm bliebe nur ein weißer Fleck übrig. Aber sein Inhalt war neu.

Dichtung ist keine Ansammlung schöner Worte und galanter Zärtlichkeiten. Das Schreckliche, Grobe und Vulgäre gehört genauso zu den gesetzmäßigen dichterischen Themen, wie alles übrige auch. Doch selbst in der Darstellung des Gröbsten in den gröbsten Worten, des Vulgärsten in den vulgärsten Worten, darf ein Dichter den Sinn und die Gedanken eines poetischen Werkes nicht vergröbern oder vulgarisieren. Der Dichter kann das Vulgäre, Grobschlächtige, Dumme darstellen, doch er darf nicht zu seinem Befürworter werden. Majakovskij machte es aber als erster nicht nur zu seinem Material, sondern zum Ziel seiner Dichtung. Die Leere, die fehlende Bedeutung der transmentalen Dichtung füllte er mit einem neuen Inhalt: dem bestialischen »einfach, wie ein Gemuhe«. Der unglückliche Revolutionär Chlebnikov beschloss seine Tage in Vergessenheit, starb auf fauligen Brettern, weil er uneigennützig war, nichts für sich wollte und nicht für die Straße dichtete. »Dyr bul ščyl!«. Wer braucht das schon? Das ist noch, wenn man so will, Romantik. Majakovskij gab der Straße das, wonach es sie verlangte. Den Reichtum, den menschlicher Geist angesammelt hatte, verschleuderte er auf dem Basar und – vulgarisierte das Ausgesuchte, simplifizierte das Komplexe, vergröberte das Feinsinnige, verflachte das Tiefsinnige, erniedrigte das Erhabene und trat es in den Schmutz.

Er fand jedoch nicht sofort seine wahre Berufung. Die Menge, die vor dem Krieg die Meetings der Futuristen füllte, war bunt zusammengewürfelt: dort trafen sich ästhetisierende Nichtstuer, Diskutanten der Geschlechterfrage, Mütterchen aus der moskauer Vorstadt, die fürchteten, hinter der Zeit und dem Urbanen zurückzubleiben, ihre tangotanzenden Töchter, langmähnige Vegetarier, Esperantisten in Unterwäsche und ohne Stiefel, notarielle Kanzleigehilfen, Zahnärzte, Gymnasiasten, Kursteilnehmer … Wenn der Anführer der Futuristen auf der Estrade des Polytechnischen Museums erschien und brüllte:

»Erlauben sie mir, mich vorzustellen: Vladimir Majakovskij – Syphilitiker!«, dann, versteht sich, hörte die gesamte Menge dem »neuen Wort der Kunst« wie gebannt zu, teils ohne es verstanden zu haben, teils erzürnt, teils begeistert, – doch eine wirkliche Botschaft konnte das Publikum bei Majakovskij nicht bekommen: nachdem es zugehört hatte, verlief es sich ruhig wieder, ging nach Hause, um Tee zu trinken und schlafen zu gehen.

Mit Beginn des Krieges eröffnete sich für Majakovskij die wirkliche Straße. Dort, wo sich jetzt das Denkmal des »Oktobers« und das moskauer Sovdep befinden, und früher das Denkmal für Skobelev und das Haus des General-Gubernators, stellte er sich auf einen Prellstein und las Gedichte, die blutrünstig und deutschenfresserisch »bis zum Äußersten« waren:

Lasst uns an den Unterhöschen der Wiener Kokotten
unsre Bajonette trockenwischen!

Und, einen Regenmantel herumschleudernd, ohne Kopfbedeckung, geleitete er durch die Tverskaja eine von jenen patriotischen Massen, vor denen die wahren Patrioten immer zur Seite gewichen sind. Ein Jahr später, auf die gleiche Art, führte er eine Horde von Pogromhelden und Rowdies an, um in einem heroischen Angriff die Schaufenster deutscher Firmen auszuplündern. Und noch ein Jahr später, schon in Petersburg, in der Wohnung Gorkijs, bekam er einen hysterischen Anfall und flehte um Hilfe: die Reihe war an die Landsturmmänner des zweiten Aufgebots gekommen. Er wurde als Zeichner in irgendeiner Ingenieursabteilung untergebracht.

* * *

»Majakovskij ist der Dichter der Revolution«. Lüge! Er war genausowenig ein Dichter der Revolution wie ein Revolutionär in der Dichtung. Sein wahres Pathos ist das Pathos des Pogroms, d. h. der Gewalt und der Beschimpfung von allem, was schwach und schutzlos ist, ob nun eine deutsche Wurstverkäuferin in Moskau oder ein an der Gurgel gepackter Bourgeois. Er hatte sich dem Oktober allein deshalb angeschlossen, weil er in ihm das Brüllen des Pogroms hörte.

Haselhühner schlemme,
Friss das Ananas, –
Dein letzter Tag wird kommen, Bourgeois!

Für dies und vieles vergleichbare fand Majakovskij eine Reihe eindrucksvoller, ausgezeichnet zusammengestellter Formulierungen, ihrem Wesen nach absolut prosaischer Natur, die aber glänzend hinter Dichtung verborgen wurde (auch dafür braucht es Talent – und kein alltägliches). Als Belohnung für solche Leistungen und als Belohnung für die Mitwirkung beim Ersticken jeglichen »Idealismus« und der Auslöschung jeglichen Geistes, – teilten die echten Revolutionäre die Haselhühner mit ihm, die sie den Bourgeois entrissen hatten, riefen ihn zum Dichter der Revolution aus und taten tatsächlich so, als glaubten sie an die revolutionäre Biographie, die er sich selbst verfasste.

Die Zeit verging. Es war unterhaltsam und lehrreich zu beobachten, wie der Verfolger der Schutzlosen sich in einen Verteidiger der Starken verwandelte, der Revolutionär – in einen Wächter am bolschewistischen Kornspeicher. Eine solche Entwicklung ist selbstverständlich typisch für die Sorte Revolutionär, zu der Majakovskij gehörte: vom »Stehle, was nicht niet- und nagelfest ist« zum »Verwahre deine Beute gut«.
Als er ein sowjetischer Bourgeois geworden war, begann Majakovskij seine revolutionären Losungen in der Westentasche zu verbergen. Genauer gesagt: er arbeitete nur noch für den Export. Er rief die mexikanischen Indios zur Revolution auf, wie auch die New Yorker Arbeiter, die Chinesen und die englischen Bergleute. Die »sozialen Gegensätze« der UdSSR zu Zeiten der NÖP bemerkte Majakovskij nicht und wenn er etwas anklagte, dann handelte es sich nur um »kleine Unzulänglichkeiten im Mechanismus« und »leichte Ungerechtigkeiten des Alltags«. Seine Themen verflachten zusehends. Er, der die Religion, die Liebe zur Heimat, die Liebe zur Frau mit Füßen getreten hatte, widmete sich ganz dem Kampf gegen den sowjetischen Bürokratismus, gegen Unterschlagung, Bestechlichkeit, Protektion und Rowdytum. Er entwickelte ein derartiges bürgerliches »Bewusstsein«, dass er für eine Lotterie Reklame machte: »Jeder, dem das Glück noch nicht spross, kaufe sofort ein Lotterielos«, »Verstecke die Obligationen, damit sie erstarken. Obligationen halten sich nicht zurück, sie liegen und bringen in fünf Jahren Glück«.

»An der Liebesfront« gab es Zeiten, da Majakovskij mit der »bürgerlichen Moral«  machte, was er wollte, um so mehr, als es in jener Zeit schlecht um sie stand. Und jetzt galt es, »die Stimme zu erheben für die Sauberkeit in unseren Beziehungen und Liebesangelegenheiten«.

Es gab Zeiten, da bestand die größte Freude darin, »Lermontov vom Dampfer der Gegenwart zu werfen«, das Hohe zu erniedrigen, das Wertvolle zu bespucken. Jetzt begann Majakovskij die sowjetischen Autoritäten nicht nur vor Beleidigungen zu schützen, sondern auch vor Familiaritäten. Das ehrfürchtige Herz Majakovskijs zog sich zusammen, als er die Bekanntmachung erblickte:

Hygienische Hosenträger
namens Semaška

Und er eilte, sich an seine Mitbürger zu wenden: »Ich rufe euch an, im Namen aller Großen: Liebe Leute, geht mit uns nicht so familiär um!« Verwerft Lermontov – ehrt Semaška.

Von einem kleinbürgerlich-sowjetischen Thema zum anderen übergehend, sich in ihnen verstrickend, verwandelte sich der Sänger des rebellischen Pöbels in einen Sänger des glückseligen Pöbels: in einen Barden seiner Freuden und Leiden, in einen Behüter seines Lebensglücks, in einen Heiler seiner Unpässlichkeiten. Die Arbeit für die Aufrechterhaltung der sowjetischen Grundpfeiler hielt Majakovskij nicht nur für die Erfüllung des »sozialen Auftrags«, sondern er verband sie einfältig und arglos mit dem Verdienen von Geld. Als er von dem niedrigen Niveau der mexikanischen Dichtung sprach, urteilte er nicht umsonst in seinen Reisenotizen: »Die Ursache dafür liegt, glaube ich, im schwachen ›sozialen Auftrag‹. Der Redakteur der Zeitung ›Die Fackel‹ erklärte mir, dass für Gedichte nichts bezahlt werde«. In gleicher Weise schrieb Majakovskij, als er Gor'kij nach Russland zurückrufen wollte, im Sinne des schlagendsten Arguments:

Ich weiß – die Macht, die Partei schätzt sie sehr,
und gäbe alles für sie – von Liebe bis Quartier.
* * *

Schon vor vier Jahren begann Majakovskij zu spüren, dass er alterte, dass er ausgedient hatte, dass die Literaturfeuilletons, mit denen er in Beziehung stand, ihn sogar vor den Augen der literarischen Jugend herabzuwürdigen begannen, dass eine Neubewertung und die unausweichliche Entfernung vom Thron bevorstanden.

Er begann über die Jugend herzuziehen und auf seine ehemaligen Verdienste hinzuweisen: das war schon ein zuverlässiges Kennzeichen des Alterns. Er begann, die »gute alte Zeit« zu beweinen, in Vergessenheit geratene Vermächtnisse zu betrauern, den Verfall der Ideale zu beklagen:

Der Literatur ist der Hammer enteilt.
Wo seid ihr Säer der Wahrheit und Sternenverstreuer?
An die vierte Etage die Pfuscher sich krallen …
Ein grüner Zweig ist heute eine Seltenheit,
kahl ist die Säulenhalle
der Literatur.

Vom allgemeinen Urteil über den Verfall der »heutigen Literatur« versuchte Majakovskij zum Angriff überzugehen, indem er die jüngeren Dichter für talentlos erklärte und sie belächelte. Kazin, Radimov, Utkin und Bezymenskij bekamen Schelte, wie alle, die von der sowjetischen Kritik herausgestellt wurden und in denen Majakovskij seine Konkurrenten erblickte. Und, schließlich, – ein zuverlässiges, letztes Anzeichen des unehrerbietigen Alterns: das Spiel mit der Jugend: »Erscheine ich euch als Akademiker mit dickem Gesäß?«, fragt Majakovskij – und an derselben Stelle schlägt er liebedienerisch vor: »Lassen wir die Verteilung von Orden und Belobigungen, hören wir auf, Genossen, Etikettchen zu kleben«.

Schon von dieser Zeit an wurde deutlich, dass Majakovskij erledigt war. Sogar das wenige, obwohl sehr lautstarke, das er zu seiner Zeit zu geben vermochte, wurde zu einer Sache der fernen Vergangenheit. Der bescheidene Vorrat seiner Möglichkeiten war aufgebraucht. Nach alles in allem fünfzehn Jahren literarischer Tätigkeit schaffte er es, in Verwesung überzugehen. Der unbezwingbare Neuerer hatte sich in einen Scherbenhaufen zersungen und mit der größten Anstrengung imitierte er seine eigenen Lieder. Natürlich fällt es zum jetzigen Zeitpunkt leicht, alles das mit rückläufigen Ziffern zu erraten, um es dann vorherzusagen, da das Leben und das literarische Schicksal Majakovskijs an einem Endpunkt angelangt sind. Aber ich habe schon vor zweieinhalb Jahren über ihn in der Zeitschrift »Vozroždenie« (Die Wiedergeburt) geschrieben:

»Im Pferdegalopp ist er durch die russische Literatur geschritten – und heute, wie es sich deutlich zeigt, steht er schon am Ende seines Weges. Fünfzehn Jahre – ein Pferdeleben«.

* * *
»ALLEN!
Die Tatsache, dass ich aus dem Leben scheide, sollt ihr niemandem zum Vorwurf und, bitte, keinesfalls zum Gegenstand von Klatschereien machen. Der Verstorbene hat dies ganz furchtbar nicht gemocht.
Mama, Schwestern und Genossen, verzeiht mir – das ist kein Mittel (ich kann es keinem anraten), doch ich sehe keinen Ausweg mehr.
Lilja, liebe mich.
Genosse Regierung, meine Familie sind: Lilja Brik, Mama, die Schwestern und Veronika Vitol'dovna Polonskaja.
Wenn du ihnen ein erträgliches Leben bereiten willst – Danke.
Begonnene Gedichte sind den Briks zu übergeben, sie werden sich in ihnen zurechtfinden.
Wie man so sagt, ›Die Sache
ist bereinigt‹, am Dasein
ists Boot der Liebe
zerschellt.
Bin quitt mit dem Leben
und wem wär es nütze,
gegenseits Vorwürfe
durchzuhecheln
mit Kränkung und Pein.
Lebt wohl, die ihr bleibt.

Vladimir Majakovskij
12/IV-30
Genossen von der VAPP, haltet mich nicht für kleinmütig.
Ernsthaft, es ist nicht zu ändern.
Gruß.
Sagt Ermolov, dass es mir leid tut. Ich habe die Losung fallenlassen. Dabei wäre es nötig gewesen, weiter zu streiten. V. M.
Im Schreibtisch liegen 2000 Rubel, nehmt sie für die Steuer. Den Rest erhaltet ihr vom Staatsverlag.
V. M.«

Das ist am 12. geschrieben, er starb am 14. Das bedeutet, dass er diesen langen, kleinkrämerischen Brief zwei Tage lang mit sich herumgeschleppt hat, angefüllt mit schlechten Versen, billigen Scherzchen, mit sowjetischen Redensarten, mit dem Hervorheben seiner Treue zur sowjetischen Regierung und vielen weiteren Dingen, über die man nicht reden möchte.

Warum er nun wirklich mit sich Schluss gemacht hat, ist es nicht völlig gleich? »Am Dasein ists Boot der Liebe zerschellt«. Er verbat sich Klatschereien über dieses Thema. Achten wir seinen letzten Willen.

Wir werden jedoch nicht annehmen, dass das Ende Majakovskijs, von Äußerlichkeiten abgesehen, mit dem Ende Esenins vergleichbar ist. Dort war die große, anhaltende Qual einer verirrten Seele, die verdorben worden, aber in ihrer Tiefe edelmütig, rein und poetisch geblieben war. Weder Edelmut, Reinheit, noch Poesie befanden sich im gesamten Charakter Majakovskijs. Esenin starb mit Hassgefühlen gegen die Betrüger und Unterdrücker Russlands. Majakovskij wünschte ihnen kratzfüßig »Lebt wohl«.

24. April 1930
 


Übersetzung: Eric Boerner – © Illeguan 1996