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Kurz ist das Leben

von Sergej Dovlatov

 

Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Sergej Dovlatov der letzte kulturelle Held der Sowjetepoche gewesen. Seine Texte wurden augenblicklich zu Sprichwörtern und Anekdoten, kehrten in die Umgebung zurück, die sie zum Teil hervorgebracht hatte. Zu anderen Zeiten in selbiger Funktion, bei anderen Generationen traten eigentlich nur »Die zwölf Stühle« und »Meister und Margarita« in Erscheinung.
Die wichtigsten Werke Dovlatovs sind in einer dreibändigen Ausgabe veröffentlicht, die mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren in den Jahren 1993 – 1995 erschien. 1995 wurde sie mit einem Band »Der unbekannte Dovlatov« ergänzt.
Im Helden der Erzählung wird der Leser ohne Schwierigkeiten ein liebevoll-gehässiges Porträt Nabokovs erkennen. Doch einige Motive sollten auch an Brodskij und Dovlatov selbst erinnern. Der Titel der Erzählung ist ein Bruchstück des bekannten, auf den griechischen Arzt Hippokrates zurückgehenden Aphorismus: »Die Kunst ist lang, kurz ist das Leben«. Traurig, doch diese Erzählung vom Ende scheint der Beginn eines neuen Dovlatov zu sein: an die Stelle des melancholischen, geduldigen Erzählers tritt ein abrechnender Novellist, der einen überraschenden, blitzartigen Punkt im letzten Satz der Fabel setzt.

Igor Suchich
Doktor der Philologie

 

Levickij öffnete die Augen und versuchte sich sofort wieder an eine Metapher zu erinnern, die er gestern vergessen hatte … »Des Vollmonds Pfefferminztablette …«? »Die krumme Banane des Halbmonds …«? Irgendwas in dieser Art, wenn auch bedeutender im Geist.

Die Metaphern kamen nachts, wenn er schon im Bett lag. Der Maestro bummelte mit den Notizen. Früher konnte er sie bis zum Morgen im Gedächtnis halten. Heute war es zur Regel geworden, dass er sie, nicht ohne ein Gefühl der Befriedigung, wieder vergaß. Die vergebene Chance eines kleinen sprachlichen Abenteuers.

Levickij richtete seinen Blick auf ein weißes, der Farbe einer Ambulanz nachgestaltetes Tischchen. Er bemerkte die gewaltige, mit dorischen Figurationen geschmückte Torte. Er begann, die dünnen, gewundenen Kerzen zu zählen.

Mein Gott, dachte Levickij, noch ein Geburtstag.

Diese Phrase war es wert, sie für die Reporter aufzusparen:

»Mein Gott! Noch ein Geburtstag! Was für eine angenehme Überraschung

– siebzig Jahre!«

Er stellte sich die Schlagzeilen vor:

»Russischer Schriftsteller feiert seinen Siebzigsten in der Fremde«. »Die Bücher des Jubilars erscheinen überall, mit Ausnahme von Moskau«. Und schließlich: »O mein Gott, ein weiterer Geburtstag!« …

Levickij duschte, zog sich an. Griff nach der Post. Die Gattin war offensichtlich in Sachen Geschenke unterwegs. Gerlinda – ein Geschöpf zwischen Verwandter und Dienstbotin – umarmte ihn. Der Maestro unterbrach sie mit den Worten:

»Du bist im Testament berücksichtigt.«

Das war ein alter Scherz zwischen ihnen.

Sie fragte:

»Tee oder Kaffee?«

»Kaffee bitte.«

»Welchen möchten sie?«

»Den braunen, wahrscheinlich.«

Dann hörte er:

»Sie werden von einer Dame erwartet.«

Schnell fragte er:

»Aber nicht die mit dem Zopf?«

»Sie hat irgendeine Rarität mitgebracht. Ich glaube – ein Buch. Sie sagte – eine Inkunabel.«

Levickij zitierte lächelnd:

»De ses mains tombe le livre,
Dans leguel elle n'avait rien lu.
(Aus ihrer Hand fiel das Buch,
in dem sie nie gelesen hatte …)«

Regina Gasparjan saß seit mehr als einer Stunde in der Halle. Zum Ausgleich reichte man ihr Kaffee mit Brötchen. Nichtsdestoweniger war das ziemlich erniedrigend. Man hätte sie in den Salon bitten können. Ihre Ehrfurcht mischte sich mit beleidigtem Unbehagen.

In ihrem Handtäschchen lag etwas, dass vom Umfang her nur etwas größer als der Miniaturbrowning für Frauen »Elita-16« war.

Regina Gasparjan stammte aus einer edlen russifizierten Familie. Ihr Vater war ein ziemlich bekannter Dozent des Stieglitz-Institutes. Als kommender Armenier beschäftigte er sich mit Kosmopolitismus. In den fünfziger Jahren schlug ihm der Forscher Čuev ein Album mit Reproduktionen von Degas in die Physiognomie.

Ihre Mutter war eine qualifizierte Übersetzerin. Kannte Kaškin. Traf sich mit Rita Kovalëva. Einen Monat lang begleitete sie Caldwell bei seiner Tournee durch den Kaukasus. Sie wurde wegen ihres komplizierten Charakters und als exotische östliche Schönheit gerühmt.

In ihrer Jugend war Regina eine typische sowjetische Schülerin. Nahm an Aufführungen teil. Spielte die Soja Kosmodejanskaja. Der Vater, unter Chruščëv rehabilitiert, nannte sie im Scherz »Sojka Komsomodejanskaja«.

Das Tauwetter brach heran. Im Haus des bekannten Künstlers Gasparjan versammelten sich junge Leute. Meistens Dichter. Hier fütterte man sie, und in der Hauptsache – man hörte sie geduldig bis zu Ende an. Unter ihnen befanden sich auch Lipskij und Brejn.

Alle waren ein bisschen hinter der schönen, belesenen und gut gebauten Regina her. Man widmete ihr Verse. Meist lustige, humoristische. Brejn schrieb ihr zu Beginn der Damanischen Krise aus Soči:

Wart' auf mich, ich kehr' zurück, wartest du nur sehr,
Warte, bis die Schwermut bringt gelbe Führer her …

Es begannen die siebziger Jahre. Das Tauwetter, wie sich die Journalisten der Emigration gerne ausdrücken, wurde vom Raureif abgelöst. Die besten Freunde gingen in den Westen.

Regina Gasparjan zögerte nicht sehr lange. Ihr Mann, ein Physiker, besaß eine guten, sozusagen objektiv wertvollen Beruf. Regina selbst hatte das Fremdspracheninstitut abgeschlossen. Ihre achtjährige Tochter konnte ein bisschen Englisch. Ihre Mutter hatte entfernte Verwandte in Chicago.

Die Familie bereitete sich auf die Ausreise vor. Und hier entstand bei Regina der unbezwingbare Gedanke an Levickij.

Levickijs Romane zirkulierten schon seit langem im Samisdat. Man hielt ihn für den größten russischen Schriftsteller der Emigration. Seiner gedachte sogar die Sowjetische Literaturenzyklopädie. Wahrlich, unter Verwendung ausgewählter Epitheta.

Sogar die Biographie Levickijs war allen bekannt. Er war der Sohn einer bekannten menschewistischen Autorität. Schloss das Berginstitut in Petersburg ab. Veröffentlichte den Gedichtband »Erwachen«, der schon seit langem zu den bibliographischen Raritäten gezählt wird. Emigrierte mit den Eltern im Jahre '19. Studierte am literaturhistorischen Institut in Prag. Lebte in Frankreich. Begeisterte sich für das Sammeln von Schmetterlingen. Brachte seinen Erstlingsroman in den »Zeitgenössischen Notizen« heraus. Trainierte ein Jahr lang Boxer im Industriebezirk von Paris. Beim Begräbnis Chodasevičs schlug er den zynischen Georgij Ivanov zusammen. Buchstäblich am offenen Grab, sozusagen.

Levickij hasste Hitler. Stalin – um so mehr. Lenin nannte er einen »Aufwiegler mit Schirmmützchen«. Zu Beginn der Okkupation machte er sich in die Vereinigten Staaten auf. Ging zur englischen Sprache über, die er übrigens seit seinen Kindertagen kannte. Er wurde zum damals einzigen russisch-amerikanischen Prosaisten.

Sein ganzes Leben lang hasste er schlechtes Benehmen, Antisemitismus und die Zensur. Drei Jahre vor seinem siebzigsten Geburtstag hasste er das Nobelpreiskomitee.

Alle kannten seine Eigenarten. Eine durchgezogene Kreidelinie teilte drei Zimmer seines Gästehauses in der Schweiz. (Der Frau und der Köchin war es verboten, sein Territorium zu betreten). Die langjährige gerichtliche Auseinandersetzung mit einem Nachbarn, der sich im Übermaß für Wagnermusik begeisterte. Die Abende mit Mahlzeiten, die nach altgriechischen Rezepten zubereitet waren. Das Duell mit dem Chemiker Bulavenko, der sich im Rausch auf die Tastatur eines Klaviers gesetzt hatte. Der berühmte Ausspruch: »Irgendwo in Sibirien müsste es eine künstlerische Literatur geben …«

Und so weiter.

Legenden über seine Größe waren im Umlauf. Genauso, wie über seine Unzugänglichkeit. Was im Grunde ein und dasselbe bedeutet. Einem bekannten Schweizer Schriftsteller, der um ein Treffen ersuchte, sagte Levickij am Telefon:

»Kommen sie nach zwei Uhr – in sechs Jahren …«

Doch was soll man erzählen, wenn sogar die Bekanntschaft mit Levickijs Köchin als großer Glücksfall galt …

Im Allgemeinen wurde Regina Gasparjan gefragt:

»Was werden sie im Westen anfangen?«

Als Antwort ertönte:

»Viel wird von einem Gepräch mit Levickij abhängen.«

Ich glaube, sie wollte Schriftstellerin werden. Dem Urteil von Freunden vertraute sie nicht sonderlich. An die sowjetischen Koriphäen mochte sie sich nicht wenden. Eine Phrase, die irgend jemand einmal gesagt hatte, ließ ihr keine Ruhe:

»Die Mützen runter, meine Herren! Vor ihnen steht ein Genie!«

Wer hatte das gesagt? Wann? Über wen? …

Vor ihrer Abreise rief Regina drei bekannte Bücherhändler vom Schwarzmarkt an. Der erste wurde Savelij genannt. Er sagte:

»›Erwachen‹ – Mensch, Alte, ist das eine abgefahrene Nummer.«

»Im Sinne?«

»Eine Variante des Typs ›Entschuldigen sie‹.«

»Was bedeutet das?«

»Operation ›Der Letzte machts Licht aus‹.«

»Wenn möglich, drücken sie sich bitte klarer aus.«

»Eine Ware ohne Preisgrenze.«

»Was soll das nun wieder heißen?«

»Das heißt – phantastische Preise.«

»Zum Beispiel?«

»Wie man so sagt – von bis.«

»Verstehe ich nicht.«

»Von drei bis fünf. Wie bei Čukovskij.«

»Von drei bis fünf – was? Hundert?«

»Eben.«

»Und bei Čukovskij – von zwei.«

»So steigen die Preise …«

Regina rief einen anderen an, der den Familien- oder Spitznamen Šmyglo trug. Er sagte:

»Was für ein Levickij? Und was soll dieses ›Erwachen‹? Möchten sie keinen Simenon? …«

Der dritte Schwarzhändler antwortete:

»Den Band mit Levickijs Jugendgedichten habe ich. Leider ist er unverkäuflich. Bin aber bereit, ihn gegen einen vierbändigen Mandel'štam zu tauschen.«

Als Resultat kam ein langer Tausch über fünf Ecken zustande. Regina konnte von irgendwem ein ausländisches Hörgerät besorgen. Irgend etwas kam unter Verwendung übelster Schimpfworte mit der Akademie für Forstwissenschaft in Gang. Jemandem gelang die Abschwächung der Absprache unter Erpressungen und Drohungen. Noch einer tauschte eine finnische Klinkerplatte. Als letzte Etappe figurierte der vierbändige Mandel'štam (Filippov und Struve als Herausgeber).

Einen Monat später hielt Regina ein dünnes grünliches Büchlein in Händen. Verlag »Giperborej«. Sankt Petersburg. 1916. Ivan Levickij. »Erwachen«.

Regina wusste, dass Levickij selbst dieses Buch nicht besaß. Davon war im bekannten Interview der »Stimme Amerikas« die Rede gewesen.

Levickij wurde gefragt:

»Wie ist ihre Beziehung zu ihren Jugendgedichten?«

»Sie sind vergessen. Es handelte sich um Skizzen für meine folgenden Romane. Es gibt sie nicht mehr. Mit dem letzten Exemplar heizte der berüchtigte Bergler bei sich auf der Datsche in Kuncevo einer Bürgerin ein.«

Im Winter erhielt Regina die Erlaubnis zur Ausreise. Danach das übliche. Eine widerwärtige Szene beim Zoll. Drei Monate Armut in Ladispole. Der bedrückende Sommer in New York, als sie und ihr Mann sich nicht aus dem Gasthaus trauten. Das erste Büro, wo sie mit der Formulierung entlassen wurde »überflüssiger Eifer«. Einige Erzählungen in einer Emigrantenzeitschrift, für die sie um die dreißig Dollar erhielt. Dann der unvermeidliche Aufstieg des Mannes – er wurde plötzlich von der Firma Exxon eingestellt. Und das bedeutete: ein eigenes Häuschen, Reisen nach Europa, Gespräche über die Steuern …

Sechs Jahre gingen ins Land. Regina brachte ihr erstes Buch heraus. Sie erhielt positive Kritiken. Nebenbei, einer der Rezensenten war ich.

Alle diese Jahre bemühte sie sich um Bekanntschaft mit Levickij. Durch Gordy Bulachovič schloss sie Bekanntschaft mit seiner achtzigjährigen Kusine. Doch gerade zu der Zeit hatte sich diese mit ihrem berühmten Verwandten zerstritten. Konkret, sie hatten einen Streit darüber, wo genau sich die Sauna im heimatlichen Gut der Levickijs befand – in Chovrino.

Regina wandte sich an Janson, an den Oberpriester Konstantin, an die Tochter Sajcevs – Olga Borisovna.

Der alte Schriftsteller Janson antwortete:

»Levickij hat über mich zu Edmund Wilson gesagt, dass ich, entschuldigen sie, ein Stück Scheiße …«

Vater Konstantin antwortete:

»Levickij ist kein Christ. Dafür ist er zu egoistisch. Sein Adresslein, tut mir leid, gebe ich nicht weiter …«

Sajceva-Reynholds schickte irgend eine Berliner Adresse mit dem Zusatz:

»Das letzte Mal habe ich diesen unerträglichen Burschen im Jahre '34 gesehen. Wir trafen uns bei einer Tannhäuser-Premiere. Er sagte, glaube ich:

›Das macht den Eindruck, als ob plötzlich Kartonrüstungen zu singen anfingen.‹

Seitdem haben wir uns nicht mehr getroffen. Ich fürchte, dass sich seine Adresse geändert haben könnte.«

Doch trotzdem gelangte Regina an die Schweizer Adresse. Wie es sich ergab, hatte sie der Verleger Poljak. Regina schrieb Levickij einen kurzen Brief. Dieser ließ buchstäblich nach zwei Wochen von sich hören.

»Die Adresse kennen sie. Nach sechs arbeite ich. Deshalb kommen sie besser morgens. Und bitte, ohne Blumen, weil diese die Angewohnheit haben, zu verwelken. Postskriptum: Fallen sie nicht über meine Schuhe, die ich nachts vor der Tür stehen habe.«

Während sie in der Halle saß, dachte Regina nach. Warum wohnt dieser Mensch in einem Hotel? Könnte es sein, dass ihn die Idee des Besitztums abstößt? Diese Frage müsste man ihm einmal stellen. Und weiter – was denkt Levickij von Solženicyn? Wo die beiden doch so verschieden sind …

»Guten Morgen, Ivan Vladimirovič!«

»Meine Verehrung«, sagte der hochgewachsene, kurz geschorene Herr.

Dann, ohne sich gesetzt zu haben, fragte er:

»Möchten sie etwas trinken?«

»Ich habe schon einen Kaffee … Und sie?«

Levickij lächelte und deklamierte langsam:

Ich trinke unverdünnten Whisky,
Wodka gern mit Kaviar,
doch mein Freund, der Schreiber Levickij,
ist Schmetterlingen eine Qual.

»Das sind Verse eines meiner Freunde.«

Und dann, nach zwei Sekunden des Schweigens:

»Womit, Gebieterin, kann ich ihnen dienlich sein?«

Regina beugte sich etwas nach vorn:

»Zuerst muss ich loswerden, dass ich seit langem ein Anhänger von ihnen bin. Besonders schätze ich ›Fernes Ufer‹, ›Die Habe‹, ›Die Herkunft Tangos‹. Das alles habe ich schon zu Hause gelesen. Das Risiko erhöhte nur den ästhetischen Genuss …«

»Ja«, nickte Levickij, »ich weiß. Das geht so in Richtung Paul de Kock oder Maupassant. Das liest man in der Kindheit mit dem Risiko, erwischt zu werden … Entschuldigung, womit kann ich dienen?«

Regina geriet ein bisschen in Verwirrung. Hauptsache ist, dass keine Pause entsteht … Er ist aber wirklich ein Frauenhasser …

»Ich weiß, dass heute ihr Geburtstag ist.«

»Danke, dass sie sich erinnert haben. Noch so ein Geburtstag. Eine angenehme Überraschung – siebzig Jahre.«

Levickij ging plötzlich zum Flüstern über. Seine Augen rollten seltsam herum:

»Merken sie sich die Hauptsache«, sagte er, »… kurz ist das Leben.«

Regina, die ihre Verwirrung überwunden hatte, brachte heraus:

»Lassen sie mich ihnen etwas überreichen … Ich hoffe … Ich bin sicher … Kurz – hier …«

Levickij empfing ein kleines gelbes Kuvert. Öffnete es mit einer Nagelschere, die er aus der Tasche zog. Dann hielt er sein Buch in den Händen. Die alte Schrift, ein Buchrücken, der nicht mehr kleben wollte, achtunddreißig Blätter schrecklichen, maschinell hergestellten Papiers.

Er öffnete die sechste Seite. Las die Überschrift – »Pfade des Traums«. Da war sie, die bekannte ungrammatikalische Trennung – »Verw-irrung«. Und hier fehlte noch das Häkchen am »w«.

»Oh mein Gott«, sagte Levickij, »ein Wunder! Wo haben sie denn das her? Ich war mir sicher, dass es keine Exemplare mehr gäbe. Ich habe die ganze Welt nach ihnen abgesucht …«

»Nehmen sie«, sagte Regina, »und zusätzlich …«

Sie zog aus der Handtasche ein Manuskript in einem dünnen Umschlag. Levickij wartete geduldig. Mit einer lang erarbeiteten Bemühung setzte er eine Leidensgrimasse auf sein Gesicht. Dann fragte er:

»Ist das von ihnen?«

Regina antwortete mit der angemessenen Bescheidenheit.

»Das sind meine letzten Erzählungen. Leider nicht gerade die besten. Könnte man … Wenn es möglich wäre … Kurz, ihre Meinung … Die sprichwörtlichen zwei Worte …«

»Wünschen sie eine schriftliche Bemerkung?«

»Ja, wissen sie, die sprichwörtlichen drei Worte … Unabhängig von …«

»Ich schicke ihnen eine Karte.«

»Bemerkenswert. Meine Adresse steht auf der letzten Seite.«

Levickij stand auf:

»Und jetzt, entschuldigen sie mich. Das Prozedere.«

Mit dem Löffel klappernd, rührte Regina ihren Kaffee um. »Interessiert es sie vielleicht, wo ich abgestiegen bin …«

Levickij küsste ihr die Hand:

»Danke. Ich fürchte, meine Jugendgedichte waren ihren Anstrengungen nicht dienlich.«

Er nickte und wandte sich in Richtung Aufzug. Regina, nervös rauchend, ging zur Drehtür.

Levickij fuhr zur dritten Etage hinauf. Im Gang zu seinem Zimmer hielt er an. Er zog das Manuskript aus dem Umschlag. Riss den Papierstreifen mit der Adresse heraus. Steckte ihn in die Tasche seiner Radfahrerhose. Öffnete die vernickelte Klappe des Müllschluckers. Hielt das kleine Büchelchen in der Handfläche und warf es dann mit Schwung ins lärmende Dunkel. Denselben Weg flatterte auch, an den Wänden des Müllschluckers raschelnd, das Manuskript hinterher. Er schaffte es noch, die Aufschrift »Sommer in Karlsbad« zu entziffern. Augenblicklich war der Text geboren:

»Habe ihren warmen, klaren ›Sommer‹ gelesen – zweifach. Es liegt so eine Empfindung für das Leben und den Tod darin. Aber auch – ein Vorgefühl des Herbstes. Glückwunsch …«

Er ging auf sein Zimmer. Sofort rief er seine Köchin und sagte:

»Lass uns mal Schwarze Petra spielen!«

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Aus »Ogonëk«, Nr. 01, 3. Januar 1997
Original unter http://kulichki.rambler.ru/moskow/dowlatow/ogonek.txt
Übersetzung: Eric Boerner – © Illeguan 1998