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Von den Übersetzungen

von Johann Wolfgang von Goethe

 

Kurze Einleitung

Diese kleine Auswahl von Goethes Bemerkungen zur Kunst der Übersetzung wurde durch die Unsitte mancher Literaturkritiker und Prosaübersetzer veranlasst, die Goethe durch extrem selektierende Auswahl von Belegstellen zum Kronzeugen anrufen, dieser hätte sich vor allem für interlineare Prosaübersetzungen als der alleinig richtigen Form ausgesprochen, während alle anderen zu vernachlässigen wären. Dies ist ja schon an sich eine alberne Behauptung, wenn man bedenkt, dass Goethe im Westöstlichen Diwan freie künstlerische Übertragungen nach den Hammerschen Prosaübersetzungen orientalischer Dichtkunst anfertigte. Wenn Prosaübersetzungen wie die von Hammer ausreichten, hätte er sich folglich den gesamten Diwan (samt seiner sich über mehrere Jahre erstreckenden Arbeit daran) einfach schenken können, und wir wären einer der bedeutendsten lyrischen Arbeiten der deutschen Literatur verlustig gegangen. Tatsächlich lässt Goethe die Interlinearübersetzung durchaus gelten, wie wohl jeder dessen Verstand nicht durch hohle Besserwisserei vernebelt wurde, nur ist sie ihm lediglich eine erste Stufe zu anspruchsvolleren Formen. Sie ist ihm vor allem etwas für Kinder und Jugendliche, die noch nicht den nötigen Ernst für anspruchsvolle Kunst aufbringen können, was einen interessanten Standpunkt impliziert, von dem man auf den geistigen Entwicklungsgrad oben erwähnter Literaturkritiker und Prosaübersetzer blicken kann. Nicht jede kulturelle gesellschaftliche Entwicklung ist eine Höherentwicklung, wie man leider feststellen muss. Manches führt in der populistischen Massenkultur zu einer extremen geistigen Enge und Verarmung. Überhaupt zeigt sich, im Gegensatz dazu, in den folgend aufgeführten Ausschnitten Goethes unnachahmliche Neigung zu Konzilianz und Weitsicht: er entwickelt hier eine biblische Breite, in der man eine jegliche Haltung zur schwierigen Kunst der Übersetzung widerlegt wie auch bestätigt finden kann. Denn für einen wirklich denkenden Menschen schließen sich selbst Gegensätze nicht aus, sondern bedingen und befördern einander.

Eric Boerner, Mai 2012


 

Übersetzungen

Da nun aber auch der Deutsche durch Übersetzungen aller Art gegen den Orient immer weiter vorrückt, so finden wir uns veranlaßt, etwas zwar Bekanntes, doch nie genug zu Wiederholendes an dieser Stelle beizubringen.

Es gibt dreierlei Arten Übersetzung. Die erste macht uns in unserm eigenen Sinne mit dem Auslande bekannt; eine schlichtprosaische ist hiezu die beste. Denn indem die Prosa alle Eigentümlichkeiten einer jeden Dichtkunst völlig aufhebt und selbst den poetischen Enthusiasmus auf eine allgemeine Wasserebne niederzieht, so leistet sie für den Anfang den größten Dienst, weil sie uns mit dem fremden Vortrefflichen mitten in unserer nationellen Häuslichkeit, in unserem gemeinen Leben überrascht und, ohne daß wir wissen, wie uns geschieht, eine höhere Stimmung verleihend, wahrhaft erbaut. Eine solche Wirkung wird Luthers Bibelübersetzung jederzeit hervorbringen.

Hätte man die ›Nibelungen‹ gleich in tüchtige Prosa gesetzt und sie zu einem Volksbuche gestempelt, so wäre viel gewonnen worden, und der seltsame, ernste, düstere, grauerliche Rittersinn hätte uns mit seiner vollkommenen Kraft angesprochen. Ob dieses jetzt noch rätlich und tunlich sei, werden diejenigen am besten beurteilen, die sich diesen altertümlichen Geschäften entschiedener gewidmet haben.

Eine zweite Epoche folgt hierauf, wo man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. Solche Zeit möchte ich im reinsten Wortverstand die parodistische nennen. Meistenteils sind es geistreiche Menschen, die sich zu einem solchen Geschäft berufen fühlen. Die Franzosen bedienen sich dieser Art bei Übersetzung aller poetischen Werke; Beispiele zu Hunderten lassen sich in Delilles Übertragungen finden. Der Franzose, wie er sich fremde Worte mundrecht macht, verfährt auch so mit den Gefühlen, Gedanken, ja den Gegenständen; er fordert durchaus für jede fremde Frucht ein Surrogat, das auf seinem eignen Grund und Boden gewachsen sei.

Wielands Übersetzungen gehören zu dieser Art und Weise; auch er hatte einen eigentümlichen Verstands- und Geschmacksinn, mit dem er sich dem Altertum, dem Auslande nur insofern annäherte, als er seine Konvenienz dabei fand. Dieser vorzügliche Mann darf als Repräsentant seiner Zeit angesehen werden; er hat außerordentlich gewirkt, indem gerade das, was ihn anmutete, wie er sichs zueignete und es wieder mitteilte, auch seinen Zeitgenossen angenehm und genießbar begegnete.

Weil man aber weder im Vollkommenen noch Unvollkommenen lange verharren kann, sondern eine Umwandlung nach der andern immerhin erfolgen muß, so erlebten wir den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige nämlich, wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle.

Diese Art erlitt anfangs den größten Widerstand; denn der Übersetzer, der sich fest an sein Original anschließt, gibt mehr oder weniger die Originalität seiner Nation auf, und so entsteht ein Drittes, wozu der Geschmack der Menge sich erst heranbilden muß.

Der nie genug zu schätzende Voß konnte das Publikum zuerst nicht befriedigen, bis man sich nach und nach in die neue Art hineinhörte, hineinbequemte. Wer nun aber jetzt übersieht, was geschehen ist, welche Versatilität unter die Deutschen gekommen, welche rhetorische, rhythmische, metrische Vorteile dem geistreich-talentvollen Jüngling zur Hand sind, wie nun Ariost und Tasso, Shakespeare und Calderon als eingedeutschte Fremde uns doppelt und dreifach vorgeführt werden, der darf hoffen, daß die Literaturgeschichte unbewunden aussprechen werde, wer diesen Weg unter mancherlei Hindernissen zuerst einschlug.

Die von Hammerschen Arbeiten deuten nun auch meistens auf ähnliche Behandlung orientalischer Meisterwerke, bei welchen vorzüglich die Annäherung an äußere Form zu empfehlen ist. Wie unendlich vorteilhafter zeigen sich die Stellen einer Übersetzung des Ferdusi, welche uns genannter Freund geliefert, gegen diejenigen eines Umarbeiters, wovon einiges in den ›Fundgruben‹ zu lesen ist. Diese Art, einen Dichter umzubilden, halten wir für den traurigsten Mißgriff, den ein fleißiger, dem Geschäft übrigens gewachsener Übersetzer tun könnte.

Da aber bei jeder Literatur jene drei Epochen sich wiederholen, umkehren, ja die Behandlungsarten sich gleichzeitig ausüben lassen, so wäre jetzt eine prosaische Übersetzung des 'Schah Nameh' und der Werke des Nisami immer noch am Platz. Man benutzte sie zur überhineilenden, den Hauptsinn aufschließenden Lektüre, wir erfreuten uns am Geschichtlichen, Fabelhaften, Ethischen im allgemeinen und vertrauten uns immer näher mit den Gesinnungen und Denkweisen, bis wir uns endlich damit völlig verbrüdern könnten.

Man erinnere sich des entschiedensten Beifalls, den wir Deutschen einer solchen Übersetzung der ›Sakontala‹ gezollt, und wir können das Glück, was sie gemacht, gar wohl jener allgemeinen Prosa zuschreiben, in welche das Gedicht aufgelöst worden. Nun aber war es an der Zeit, uns davon eine Übersetzung der dritten Art zu geben, die den verschiedenen Dialekten, rhythmischen, metrischen und prosaischen Sprachweisen des Originals entspräche und uns dieses Gedicht in seiner ganzen Eigentümlichkeit aufs neue erfreulich und einheimisch machte. Da nun in Paris eine Handschrift dieses ewigen Werkes befindlich, so könnte ein dort hausender Deutscher sich um uns ein unsterblich Verdienst durch solche Arbeit erwerben.

Der englische Übersetzer des Wolkenboten ›Mega Dhuta‹ ist gleichfalls aller Ehren wert, denn die erste Bekanntschaft mit einem solchen Werke macht immer Epoche in unserem Leben. Aber seine Übersetzung ist eigentlich aus der zweiten Epoche, paraphrastisch und suppletorisch, sie schmeichelt durch den fünffüßigen Jambus dem nordöstlichen Ohr und Sinn. Unserm Kosegarten dagegen verdanke ich wenige Verse unmittelbar aus der Ursprache, welche freilich einen ganz ändern Aufschluß geben. Überdies hat sich der Engländer Transpositionen der Motive erlaubt, die der geübte ästhetische Blick sogleich entdeckt und mißbilligt. Warum wir aber die dritte Epoche auch zugleich die letzte genannt, erklären wir noch mit wenigem. Eine Übersetzung, die sich mit dem Original zu identifizieren strebt, nähert sich zuletzt der Interlinearversion und erleichtert höchlich das Verständnis des Originals; hiedurch werden wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben, und so ist denn zuletzt der ganze Zirkel abgeschlossen, in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt.

Aus: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Diwan

 

Byrons Don Juan

            Mir fehlt ein Held! – »Ein Held er sollte fehlen,
            Da Jahr und Monat neu vom neusten spricht?« –
            Ein Zeitungsschreiber mag sich schmeichelnd quälen,
            So sagt die Zeit: es sei der rechte nicht.
            Von solchen mag ich wahrlich nichts erzählen,
            Da nehm' ich mir Freund Juan ins Gesicht;
            Wir haben in der Oper ihn gesehen,
            Früher als billig war, zum Teufel gehen.
            (…)

Wenn wir früherhin eine Stelle aus dem vielleicht übersetzbaren Graf Carmagnola einzurücken Bedenken trugen und gegenwärtig mit kühnem Versuch den unübersetzlichen Don Juan ergreifen und behandeln, so möchte dies wohl als Widerspruch gesehen werden; deshalb wir denn auf den Unterschied hinzudeuten nicht ermangeln. Herr Manzoni ist bei uns noch wenig bekannt, daher soll man seine Vorzüge erst in ihrer ganzen Fülle, wie nur das Original sie darbietet, kennenlernen; alsdann wird Übersetzung von einem unserer Jüngern Freunde gar wohl am Platze sein; in Lord Byrons Talent sind wir aber genugsam eingeweiht und können ihm durch Übersetzung weder nutzen noch schaden; die Originale sind in den Händen aller Gebildeten.

Uns aber wird ein solcher Versuch, wäre auch das Unmögliche unternommen, immer einigen Nutzen bringen: denn wenn uns eine falsche Spiegelung auch das Originalbild nicht richtig wiedergibt, so macht sie uns doch aufmerksam auf die Spiegelfläche selbst und auf deren mehr oder weniger bemerkliche mangelhafte Beschaffenheit.

Don Juan ist ein grenzenlos-geniales Werk, menschenfeindlich bis zur herbsten Grausamkeit, menschenfreundlich, in die Tiefen süßester Neigung sich versenkend; und da wir den Verfasser nun einmal kennen und schätzen, ihn auch nicht anders wollen, als er ist, so genießen wir dankbar, was er uns mit übermäßiger Freiheit, ja mit Frechheit vorzuführen wagt. Dem wunderlichen, wilden, schonungslosen Inhalt ist auch die technische Behandlung der Verse ganz gemäß, der Dichter schont die Sprache so wenig als die Menschen, und wie wir näher hinzutreten, so sehen wir freilich, daß die englische Poesie schon eine gebildete komische Sprache hat, welcher wir Deutschen ganz ermangeln.

Das Deutschkomische liegt vorzüglich im Sinn, weniger in der Behandlung. Lichtenbergs Reichtum wird bewundert, ihm stand eine ganze Welt von Wissen und Verhältnissen zu Gebote, um sie wie Karten zu mischen und nach Belieben schalkhaft auszuspielen! Selbst bei Blumauer, dessen Vers- und Reimbildung den komischen Inhalt leicht dahinträgt, ist es eigentlich der schroffe Gegensatz vom Alten und Neuen, Edlen und Gemeinen, Erhabenen und Niederträchtigen, was uns belustigt. Sehen wir weiter umher, so finden wir, daß der Deutsche, um drollig zu sein, einige Jahrhunderte zurückschreitet und nur in Knittelreimen eigentlich naiv und anmutig zu werden das Glück hat.

Beim Übersetzen des Don Juan ließen sich dem Engländer manche Vorteile ablernen; nur einen Spaß können wir ihm nicht nachmachen, welcher öfters durch seltsame und zweifelhafte Aussprache mancher, auf dem Papier ganz verschieden gestalteter Worte bewirkt wird. Der englische Sprachkenner mag beurteilen, inwiefern der Dichter auch da mutwillig über die Schnur gehauen.

Nur zufällig konnte die Übersetzung der hier mitgeteilten Strophen entstehen, und wir lassen sie abdrucken nicht als Muster, sondern zur Anregung. Unsere sämtlichen talentvollen Übersetzer sollten sich teilweise daran versuchen; man müßte sich Assonanzen, unreine Reime und wer weiß was alles erlauben; dabei würde eine gewisse lakonische Behandlung nötig sein, um Gehalt und Gewicht dieses frechen Mutwillens auszudrücken; erst wenn etwas geleistet ist, wird man sich weiter darüber besprechen können.

Sollte man uns vorwerfen, daß wir, durch Übersetzung, eine solche Schrift in Deutschland ausbreitend, unverantwortlich handeln, indem wir eine treue, ruhige, wohlhäbige Nation mit dem Unsittlichsten, was jemals die Dichtkunst vorgebracht, bekannt zu machen trachten, so antworten wir, daß, nach unserm Sinne, diese Übersetzungsversuche nicht gerade zum Druck bestimmt sein müßten, sondern als Übung guter talentvoller Köpfe gar wohl gelten dürften. Sie mögen alsdann, was sie hiebei gewonnen, zu Lust und Freude ihrer Sprachgenossen bescheidentlich anwenden und ausbilden. Genau betrachtet wäre jedoch von einem Abdruck solcher Gedichte kein sonderlicher Schade für die Moralität mehr zu befürchten, indem Dichter und Schriftsteller sich wunderlich gebärden müßten, um sittenverderberischer zu sein als die Zeitungen des Tags.

Aus: Über Kunst und Altertum. Dritten Bandes erstes Heft. 1821

 

Shakespeare und kein Ende

(…)

Wodurch erwarb sich denn Schröder das große Verdienst, Shakespeares Stücke auf die deutsche Bühne zu bringen, als daß er der Epitomator des Epitomators wurde! Schröder hielt sich ganz allein ans Wirksame, alles andere warf er weg, ja sogar manches Notwendige, wenn es ihm die Wirkung auf seine Nation, auf seine Zeit zu stören schien. So ist es zum Beispiel wahr, daß er durch Weglassung der ersten Szenen des Königs Lear den Charakter des Stücks aufgehoben; aber er hatte doch recht: denn in dieser Szene erscheint Lear so absurd, daß man seinen Töchtern in der Folge nicht ganz unrecht geben kann. Der Alte jammert einen, aber Mitleid hat man nicht mit ihm und Mitleid wollte Schröder erregen, sowie Abscheu gegen die zwar unnatürlichen, aber doch nicht durchaus zu scheltenden Töchter.

In dem alten Stücke, welches Shakespeare redigiert, bringt diese Szene im Verlaufe des Stücks die lieblichsten Wirkungen hervor. Lear entflieht nach Frankreich, Tochter und Schwiegersohn, aus romantischer Grille, machen verkleidet irgendeine Wallfahrt ans Meer und treffen den Alten, der sie nicht erkennt. Hier wird alles süß, was Shakespeares hoher tragischer Geist uns verbittert hat. Eine Vergleichung dieser Stücke macht dem denkenden Kunstfreunde immer aufs neue Vergnügen.

Nun hat sich aber seit vielen Jahren das Vorurteil in Deutschland eingeschlichen, daß man Shakespeare auf der deutschen Bühne Wort für Wort aufführen müsse, und wenn Schauspieler und Zuschauer daran erwürgen sollten. Die Versuche, durch eine vortreffliche genaue Übersetzung veranlaßt, wollten nirgends gelingen, wovon die weimarische Bühne bei redlichen und wiederholten Bemühungen das beste Zeugnis ablegen kann. Will man ein Shakespearisch Stück sehen, so muß man wieder zu Schröders Bearbeitung greifen; aber die Redensart, daß auch bei der Vorstellung von Shakespeare kein Jota zurückbleiben dürfe, so sinnlos sie ist, hört man immer wiederklingen. Behalten die Verfechter dieser Meinung die Oberhand, so wird Shakespeare in wenigen Jahren ganz von der deutschen Bühne verdrängt sein, welches denn auch kein Unglück wäre; denn der einsame oder gesellige Leser wird an ihm desto reinere Freude empfinden.

(…)

Aus: Über Kunst und Altertum. Fünften Bandes drittes Heft. 1826

 

(…)

Nun erschien Wielands Übersetzung. Sie ward verschlungen, Freunden und Bekannten mitgeteilt und empfohlen. Wir Deutschen hatten den Vorteil, daß mehrere bedeutende Werke fremder Nationen auf eine leichte und heitere Weise zuerst herübergebracht wurden. Shakespeare prosaisch übersetzt erst durch Wieland, dann durch Eschenburg, konnte als eine allgemein verständliche und jedem Leser gemäße Lektüre sich schnell verbreiten, und große Wirkung hervorbringen. Ich ehre den Rhythmus wie den Reim, wodurch Poesie erst zur Poesie wird, aber das eigentlich tief und gründlich Wirksame, das wahrhaft Ausbildende und Fördernde ist dasjenige was vom Dichter übrigbleibt, wenn er in Prose übersetzt wird. Dann bleibt der reine vollkommene Gehalt, den uns ein blendendes Äußere oft, wenn er fehlt, vorzuspiegeln weiß, und wenn er gegenwärtig ist, verdeckt. Ich halte daher, zum Anfang jugendlicher Bildung, prosaische Übersetzungen für vorteilhafter als die poetischen: denn es läßt sich bemerken, daß Knaben, denen ja doch alles zum Scherze dienen muß, sich am Schall der Worte, am Fall der Silben ergötzen, und durch eine Art von parodistischem Mutwillen den tiefen Gehalt des edelsten Werks zerstören. Deshalb gebe ich zu bedenken, ob nicht zunächst eine prosaische Übersetzung des Homer zu unternehmen wäre; aber freilich müßte sie der Stufe würdig sein, auf der sich die deutsche Literatur gegenwärtig befindet. Ich überlasse dies und das Vorgesagte unsern würdigen Pädagogen zur Betrachtung, denen ausgebreitete Erfahrung hierüber am besten zu Gebote steht. Nur will ich noch, zugunsten meines Vorschlags, an Luthers Bibelübersetzung erinnern: denn daß dieser treffliche Mann ein in dem verschiedensten Stile verfaßtes Werk und dessen dichterischen, geschichtlichen, gebietenden, lehrenden Ton uns in der Muttersprache wie aus einem Gusse überlieferte, hat die Religion mehr gefördert, als wenn er die Eigentümlichkeiten des Originals im einzelnen hätte nachbilden wollen. Vergebens hat man nachher sich mit dem Buche Hiob, den Psalmen und andern Gesängen bemüht, sie uns in ihrer poetischen Form genießbar zu machen. Für die Menge, auf die gewirkt werden soll, bleibt schlichte Übertragung immer die beste. Jene kritischen Übersetzungen, die mit dem Original wetteifern, dienen eigentlich nur zur Unterhaltung der Gelehrten untereinander.

(…)

Aus: Dichtung und Wahrheit. Dritter Teil. Elftes Buch

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Ausgewählt und eingeleitet von Eric Boerner • © Illeguan 2010/12