Kurze Vorgeschichte: Petruška und die Skomorochen
Die vom lateinischen Rom bestimmte Kultur Mittel- und Westeuropas hat immer mit einem gewissen Befremden nach Osten geblickt. Dabei zeigt gerade der Blick auf die Volkskultur breite Übereinstimmungen. Die mitteleuropäischen Gaukler des Mittelalters finden ihre exakte Entsprechung in den russischen Skomorochen, die mit dressierten Bären und Ziegen, akrobatischen Nummern, anspielungsreichen Theateraufführungen dem eintönigen und schweren Leben auf den Dörfern Glanzpunkte aufsetzten. Im Gefolge dieser fröhlichen Gaukler findet sich schon seit dem Mittelalter eine Figur, wie sie in ganz Europa unter verschiedenen Namen bekannt ist: Petruška, das Peterchen. Die Deutschen kennen ihn als Kasperl oder Hanswurst, die Italiener als Pulcinella der Commedia del Arte, die Franzosen als Polichinelle, die Engländer als Punch. Wie seine westeuropäischen Verwandten trägt Petruška eine Narrenkappe, hat eine große gebogene Nase und einen lachenden Mund. Er trägt eine rote Bluse und Stiefel. Heute finden wir ihn nur noch als Puppe im Kindertheater und so übersieht man leicht, dass dieser Geselle zuweilen den Zorn der Geistlichkeit und der Fürsten auf sich zog; im 17. Jahrhundert die fahrenden Skomorochen, mit denen er auftrat, sogar verboten wurden. Der Sinn solcher Verbote ist einsichtig: die Verhältnisse sind schlecht, das liegt aber nicht an der Unfähigkeit der hohen Herren, an ihrer Habsucht, sondern an denen, die darauf aufmerksam machen, die mit ihren Späßen dagegen opponieren.
Die russische Literatur entdeckte diese reiche Volkskultur erst in der Romantik. Während man in Deutschland den Hanswurst von der Bühne vertrieben hatte, wie Lessing fand, die eigentlich größte denkbare Hanswurstiade, gab die Hinwendung zum Volkstümlichen in Russland auch der Figur des Narren ihren Platz.
Puškin: Boris Godunov
In Puškins Boris Godunov, dem russischen Nationaldrama, sogar an recht prominenter Stelle. Dieses Drama gehört von Anfang an bis in unsere Tage zu den am meisten missdeuteten Werken der russischen Literatur. Im Zarismus galt es wegen seiner kritischen Darstellung der Herrscherlegitimation als inakzeptabel, die kommunistische Kritik hat daraus ein Stück machen wollen, dass eine Volksrevolution verherrlicht, was beides eine objektive Auseinandersetzung mit Puškins »echt romantischer« Tragödie verhindert hat.
DRITTER: Hör mal! Lärm. Ob das der Zar ist?
VIERTER: Nein; das ist der Gottesnarr.
(Der Gottesnarr tritt auf. Er trägt eine eiserne Mütze und ist mit Ketten behängt. Kinder umringen ihn)
KINDER: Nikol'ka, Nikol'ka – eiserne Kappe! … tr r r r r r …
ALTE: Fort mit euch, ihr Teufelchen, fort vom Gesegneten. – Bete, Nikol'ka, für mich und meine Sünden.
GOTTESNARR: Gib, gib, gib mir ein Kopeke.
ALTE: Hier hast du eine Kopeke; denk an mich.
GOTTESNARR: Der Mond scheint,
Das Kätzchen weint,
Gottesnarr, steh auf,
Und bete zu Gott!
(Die Kinder umringen ihn von neuem)
KNABE: Grüß dich, Nikol'ka; warum nimmst du die Kappe nicht ab? (Klopft an die eiserne Kappe.) Huj, wie das klingt!
GOTTESNARR: Aber ich habe eine Kopeke.
KNABE: Du lügst! Zeig mal her. (Stiehlt die Kopeke und läuft fort)
GOTTESNARR: (weint) Sie haben mir die Kopeke genommen; sie beleidigen Nikol'ka!
VOLK: Der Zar, der Zar kommt.
(Der Zar kommt aus der Versammlung. Ein Bojar geht ihm voraus und verteilt milde Gaben. Bojaren.)
GOTTESNARR: Boris, Boris! Die Kleinen beleidigen Nikol'ka.
ZAR: Gebt ihm eine milde Gabe. Warum weint er?
GOTTESNARR: Die kleinen Kinder beleidigen Nikol'ka … Befiehl sie zu zerhauen, wie du den kleinen Zarewitsch zerhauen hast.
BOJAREN: Fort mit dir, du Narr! Ergreift den Narren!
ZAR: Lasst ihn! Bitte für mich, armer Nikol'ka. (Er geht weg.)
GOTTESNARR: Nein, nein! Keiner darf für den Zaren Herodes bitten – die Gottesmutter erlaubt das nicht.
Puškin hat den Gottesnarren Nikol'ka nicht erfinden müssen. Es hat diesen Geistesschwachen mit eiserner Kappe, der mit schweren Ketten behängt durch die Lande zog, in Wirklichkeit gegeben. Er hat, so überliefert es seine Heiligenvita, auch Boris Godunov eindringlich ermahnt. Allerdings sagte er, dass Gott lange zögert, bevor er sich furchtbar rächt. Soweit die Überlieferung. Puškin hat aber keinen Heiligen dargestellt, sondern eine Figur, in der sich das gesamte Drama widerspiegelt. In seiner Szene wird er zunächst von einer Alten mit einer Kopeke bestochen, damit er für sie betet. Er ist also als eine Art von Ablasshändler tätig. Die Kopeke wird von kleinen Kindern gestohlen, was keinen guten Eindruck von russischen Kindern hinterlässt. Als der Zar vorbeikommt, fordert der Narr, dass diese kleinen Verbrecher zerstückelt werden sollen, wie es der Zar mit dem Zarewitsch Dmitrij gemacht habe. Was wiederum keinen guten Eindruck von der Heiligkeit des Narren hinterlässt, der offensichtlich kein Kinderfreund ist. Doch als der Zar mit milden Gaben eine Fürbitte vom Narren erbittet, lehnt dieser kategorisch ab. Es gibt Grenzen für seine Bestechlichkeit, da er bei all seiner Heruntergekommenheit eben doch ein Heiliger ist. Diese ambivalente Auffassung einer Bühnenfigur ist tatsächlich revolutionär, wenn auch nicht im Sinn der Revolutionäre. Puškin hat in seinem Drama keinen Konflikt zwischen Protagonisten und Antagonisten geschaffen, sondern alle Figuren haben extrem gute und extrem böse Seiten. So gibt es keine idealen Herrscher: Boris Godunov und sein Gegner Dmitrij sind Betrüger und Kindermörder, die andererseits von ernsthafter Bemühung um eine gute Regentschaft durchdrungen sind. Und so gibt es auch keinen idealen Heiligen. Der Gottesnarr Nikol'ka ist ein rachsüchtiger Seelsorger. Eine Gestalt, die trotz ihres verhältnismäßig kleinen Auftritts einen unvergesslichen Eindruck hinterlässt.
Verstanden wurde diese radikal neue Auffassung in Russland nicht. Das Stück erschien zwar 1831 in zensorisch verstümmelter Form, kam aber erst 1876 auf die Bühne, fast 40 Jahre nach dem Tod des Verfassers. Puškin hat wohl aus diesen Erfahrungen heraus kein weiteres abendfüllendes Drama mehr geschrieben und die Pläne zu einer Fortsetzung des Godunov in zwei weiteren Stücken fallengelassen.
Gogol': Der Revisor
Aber es gibt eine Lustspielvariante des Stücks, zu der er die Idee geliefert hat. Gemeint ist Gogol's Revisor, der sich durchaus als geschickt veränderter Godunov verstehen lässt. Der mittellose Durchreisende Chlestakov wird in einer Provinzstadt für einen ängstlich erwarteten staatlichen Revisor gehalten. Die Stadtbewohner, allen voran der selbstherrliche Stadthauptmann, bestechen ihn aus Angst um ihre Pfründe. Als Chlestakov eilig entwischt ist, kommt der echte Revisor und der Skandal ist da.
Chlestakov ist eine Narrengestalt in Zivil. Gogol' drängt in seinen Anweisungen für die Schauspieler nachdrücklich darauf, dass er als einfältiger Charakter angelegt werden muss, um seine volle Wirkung zu entfalten. Als falscher Revisor wird Chlestakov unfreiwillig zu einem Abkömmling des falschen Demetrius. Der Stadthauptmann, der durch Bestechlichkeit und Amtsmissbrauch zum Herrscher der Provinzstadt wurde, ist eine Variante Godunovs, der sich den Thron durch einen Kindermord erschlich. Gogol' hat Puškins Grundidee aber auf ganz eigene Weise geformt, keine einfache Variante hinterlassen. Gogol', der tief in der karnevalistischen Tradition der kleinrussischen Volksbühne wurzelt, macht Chlestakov zu einem Narrenkönig, der zeitweilig die kleine Welt der Stadt beherrscht und letztlich alle in Narren verwandelt. Diesem romantisch-volkstümlichen Element gesellt er noch ein religiöses hinzu: Die betrogenen Stadtbewohner lassen am Ende des Stücks keinen Zweifel daran, wer sie da heimgesucht hat. Es ist der Teufel selbst gewesen, dem sie machtlos ausgeliefert waren. Und da sie jetzt dem echten Revisor unvorbereitet ausgeliefert sind, kommt es zur Austreibung des Bösen. Das Stück ist damit eine humorige Apokalypse. Nach der Herrschaft des Bösen, wird die Herrschaft des Guten folgen.
Puškin und Gogol' haben in diesen beiden Dramen die Spannweite der romantischen Narrenfigur aufgezeigt, die zwischen dem reinigenden Teufelsnarren Chlestakov und dem boshaften Gottesnarren Nikol'ka angelegt ist.
Gogol': Der Mantel
Besonders Gogol' hat eine Reihe von Varianten des Alltagsnarren zwischen diese Extreme eingefügt. Nur zum Beispiel den Teufelsnarren Čičikov, der durch das Land zieht, um »tote Seelen« einzusammeln. Aber auch den Gottesnarren Akakij Akakevič, der im vielfach geflickten Uniformmantel bei einer untergeordneten Behörde lächerlich-ernsthafte Schreiberdienste verrichtet, und damit seinen Kollegen zum eifrig verspotteten Zerrspiegel ihres eigenen Daseins wird. Der in Fetzen gehende Mantel ist nicht nur ein Hinweis auf die schlechte Bezahlung der unteren Beamten, sondern ein Narrenmantel. Die Wohnung Akakijs, die eher ein Verschlag ist, gleicht einer Kiste, in die man die Kasperpuppen nach der Theater-Aufführung sperrt. Und deshalb verdient Akakij Akakevič Bašmačkin nicht nur Beachtung als dankbares Mobbing-Opfer gestresster Beamter. Wie es dem Narren zukommt, hilft er, die Ungerechtigkeit der Welt aufzuzeigen:
Erst wenn der Spaß ziemlich unerträglich wurde, wenn man ihn am Arm stieß und bei seiner Arbeit behinderte, rief er aus: »Lasst mich, warum beleidigt ihr mich?« Und etwas Seltsames lag in den Worten und in der Stimme, mit der sie ausgesprochen wurden. Es war darin etwas so Bedauernswertes herauszuhören, dass ein junger Mann, der erst vor Kurzem angestellt worden war und sich nach dem Beispiel der Anderen ebenfalls erlaubte, sich über ihn lustig zu machen, plötzlich, wie vom Schwert durchstoßen, innehielt und seitdem gleichsam alles ringsum verwandelt und in einem anderen Licht zu sehen schien. Eine schier übernatürliche Macht zog ihn fort von den Kollegen, mit denen er sich angefreundet hatte, als er sie noch für angenehme und weltgewandte Leute ansah. Und noch lange danach, selbst in den heitersten Momenten, gewahrte er den kleinen Beamten mit der Stirnglatze und hörte die durchdringenden Worten: »Lasst mich in Ruhe, weshalb beleidigt ihr mich?« – und in diesen durchdringenden Worten erklang jenes andere Wort: »Ich bin dein Bruder«.
In gewissem Sinne weist Akakij Akakevič aber schon über den romantischen Narren hinaus, gibt er sich doch mit seiner Rolle als Geistesschwacher, dem bekanntlich das Himmelreich gehört, nicht mehr zufrieden und will durch den Erwerb eines neuen Mantels zum echten Menschen mutieren. Dieses Aufbegehren gegen die göttliche Ordnung findet aber zwangsläufig ein tragisches Ende: der Mantel wird gestohlen, der Gotteslästerer stirbt an einer Erkältung und muss als Gespenst seine Anmaßung sühnen. In der Zusammenschau wirkt das zwar noch echt romantisch, aber allein Gogol's Versuch, eine frei erfundene Narrengestalt in ein wirklichkeitsnahes Umfeld zu integrieren und hier zu vermenschlichen, wurde schon von den Zeitgenossen als Beginn einer neuen Literatur gefeiert: der naturalistischen Schule oder wie wir es nennen würden: des Realismus. Insgesamt hat Gogol' mit dem Pandämonium an Narrengestalten, die sein Gesamtwerk bevölkern, eine russische Abwandlung der Commedia del Arte geschaffen, aus dem noch heute die russischen Autoren schöpfen können.
Lermontov: Der Prophet
Das Schlusswort über die Romantik hat aber nicht Gogol' gesprochen, sondern Michail Lermontov in seinem Gedicht »Der Prophet«. Es ist sein letztes Gedicht, das er nicht lange vor seinem frühen Tod im Duell geschrieben hat:
Der Prophet
Seit jener Zeit als mir der Herr
Prophetische Erkenntnis schenkte,
Les' ich nur Laster, Hass und Schmerz
In den Augen aller Menschen.
Die reine Lehre tat ich kund,
Durch Liebe wollte ich vereinen:
Die Nächsten aber lachten und
Bewarfen mich mit Steinen.
Asche streute ich aufs Haupt,
Die Städte floh ich ohne Habe
Und teilte, durch die Wüste laufend,
Mit den Vögeln Gottesgaben.
Die Schöpfung ist mein treuer Hort,
Weil ich Sein Testament bewahre;
Die Sterne lauschen meinem Wort,
Wie freudig spielen ihre Strahlen!
Doch wenn ich in die laute Stadt
Mich vorübergehend wage,
Die selbstgerechten Alten da
Lächelnd ihren Kindern sagen:
»Nehmt euch seines Beispiels an,
Er war zu stolz, mit uns zu leben:
Der Dummkopf glaubt in seinem Wahn,
Dass Gott mit seiner Zunge redet!
Betrachtet, Kinder, wie er schleicht
Ganz nackt und arm durch unsre Gassen!
Wie dürr er ist, wie finster, bleich, –
Und wie ihn alle Menschen hassen!«
1841
In ziemlich grausamer Weise macht Lermontov in diesem Gedicht die prominente Gestalt des Propheten zu einem Gottesnarren und lässt ihn dann mit Steinen bewerfen. Dies ist eine verzweifelte Absage an die Daseinsberechtigung des Dichter-Propheten, der mit Gottes Wort die Herzen der Menschen entzünden soll. Die Wirkung des Gedichtes ist um so stärker, als es aus einem deutlich erkennbaren romantischen Bewusstsein heraus geschrieben ist. Hier warnt ein Romantiker vor der Romantik und ihren lebensfremden Wunschträumen. Es handelt sich um einen literarischen Selbstmord, dem der echte Tod auf dem Fuße folgte.
Dostoevskij: Der Idiot
Obwohl die Romantik am Leben gescheitert ist, hat sie dennoch tiefe Spuren in der nachfolgenden Literatur hinterlassen. Dostoevskij bekannte einmal, dass alle Realisten unter Gogol's »Mantel« hervorgekrochen seien. Die romantischen Prototypen wurden nicht beerdigt, sondern einer tiefgreifenden Revision unterzogen. Anstelle der vereinigten Gegensätze, tritt besonders bei Dostoevskij eine Zersplitterung ein. Das kann man sich einfach am Fürsten Myškin, dem »Idioten« klar machen, dem wohl bekanntesten aller Gottesnarren. Bei Dostoevskij weist er, ganz anders als Puškins Nikol'ka, keinerlei negative Züge auf. Es handelt sich um einen rein guten Menschen. Die negativen Züge sind ganz auf Rogožin übergegangen, seinem bösen Doppelgänger. In der Romantik wären beide eine Figur gewesen, bei Dostoevskij sind sie zwei kommunizierende Röhren. Durch diesen erzählerischen Kniff kann der Autor die innere Widersprüchlichkeit des Menschen in eine äußere Handlung überführen. Beide wollen Nastasja Filipovna für sich gewinnen, ein gefallenes Mädchen, das von ihrem Vormund missbraucht wurde. An deren Seite erscheint Aglaja. Ein völlig unberührtes Mädchen, die von ihrer Familie sorgsam behütet in einer Art von Überprotektion aufgewachsen ist. Nastasja und Aglaja sind ebensolche Doppelgängerfiguren wie Rogožin und Myškin.
Wenn man so will, sind diese Romanfiguren die Folge einer Kernspaltung. Das Atom wird zerteilt, anstelle eines kaputten Atoms entstehen aber zwei neue, mit vollkommen neuen Eigenschaften, mit einer eigenen Biographie. Fürst Myškin ist das Produkt eines gewissen Schweizer Psychologen namens Schneider, der aus dem geistig völlig degenerierten Abkömmling eines alten Adelsgeschlechts eine Art christlichen Homunkulus geschaffen hat. Asexuell, arglos und mitleidig, selbst bei persönlich erlittenen schweren Beleidigungen, ist Myškin aber durchaus kein christliches Ideal, auch wenn er von einigen der ihn umgebenden Romanfiguren als solches gesehen wird. Als Halbmensch muss er keine negativen Seiten in sich überwinden. Das Zölibat dieses geistig armen Eunuchen ist keine heilige Enthaltsamkeit, sondern deren Karikatur. Nicht zufällig überprüfen die Kardinäle die Hoden eines neugewählten Papstes sorgsam auf Vollständigkeit. Myškins perfektes Pendant ist Aglaja, die, beschützt von allen männlichen Nachstellungen, wie in einer verkorkten Flasche aufgewachsen ist. Ihre Reinheit und Unberührtheit ist Folge einer einseitigen Erziehung, nicht das Ergebnis sittlicher Reife. Sie ist deshalb ebenfalls ein Idiot, der dem Leben nicht gewachsen ist.
Dem stehen die beiden Teufelsnarren Nastasja und Rogožin gegenüber. Nastasja ist von ihrem Vormund missbraucht worden und kann diese Erniedrigung aus eigener Kraft nicht überwinden. Sie wird schließlich das Opfer ihres eigenen Männerhasses, der sie in die Arme Rogožins treibt. Dieser ist durch seinen reichen, aber äußerst geizigen Vater zum gierigen Egoisten erzogen worden, der alles Ersehnte – sei es nun eine reiche Erbschaft oder eine lang begehrte Frau – sofort wieder vernichten muss, sobald es in seinen Besitz übergeht.
Theoretisch besteht in diesem Viereck aus Wahlverwandtschaften natürlich die Möglichkeit des Ausgleichs. Tatsächlich streben die grausame Nastasja und der dulderische Myškin auch eine Ehe an, die aber durch die Flucht der Braut vereitelt wird. Sie flieht zu Rogožin, der sie nach einer gemeinsamen Liebesnacht umbringt. Myškin spürt Rogožin zwar auf, aber er kann die tote Nastasja nur noch beweinen, in dem er seine Tränen auf die mitleidlosen Wangen Rogožins rinnen lässt. Ein letzter, sinnloser Versuch, zwischen den abgespalteten antagonistischen Ichs einen gesunden Ausgleich zu schaffen. Myškin fällt wieder in seinen ursprünglichen Dämmerzustand zurück und wird in das schweizerische Sanatorium des Doktor Schneider zurückgebracht.
Im letzten Absatz des Romans berichtet Myškins Pfleger, Evgenij Pavlovič, von einem Besuch der Mutter Aglajas bei dem geisteskranken Idioten:
Die arme Lisaveta Prokofevna wäre gern nach Russland zurückgekehrt, und Evgenij Pavlovič berichtet, dass sie alles Ausländische sehr bissig und parteiisch kritisiert habe: »Nirgends können sie richtiges Brot backen, im Winter frieren sie wie die Mäuse im Keller«, sagte sie, »aber wenigstens habe ich hier über diesen armen Menschen gut russisch weinen können«, fügte sie hinzu und wies erregt auf den Fürsten, der sie gar nicht erkannte. »Genug der Schwärmerei, es ist Zeit, die Vernunft wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen. Denn dies alles, dieses ganze Ausland und euer ganzes Europa ist bloße Fantasie, und wir alle im Ausland sind auch nur Fantasie … denkt an meine Worte, ihr werdet es selbst einmal sehen!«, schloss sie beinahe wütend, als sie sich von Evgenij Pavlovič verabschiedete.
Unbemerkt von fast allen Kritikern des Romans deckt Aglajas Mutter hier den ganzen fantastischen Widersinn des Romans auf. Tatsächlich ist alles erfunden, Europa, Russland, alle Personen und Verhältnisse, und nicht etwa nur in dem Sinne, dass ein gewisser Dostoevskij sie sich ausgedacht hat. Die ganze Zeit über hat dieser Roman nichts anderes als die Innenwelt eines Idioten geschildert, der in seiner Zelle gesessen hat, ohne sie auch nur ein einziges Mal zu verlassen. Der Roman ist die Irrenhausfantasie eines zerrütteten Geistes, der aus der Realität herausgefallen ist. Das vergebliche Ringen um den Ausgleich der Romanfiguren ist der innere Kampf um die geistige Gesundheit eines Menschen, von dem wir nur vermuten können, dass es sich um einen Frauenmörder handelt, der im Bewusstsein seiner Schuld dem Wahnsinn verfallen ist. Nicht zufällig hat Dostoevskij diesen Roman eine fantastische Tragödie genannt. Der Umstand, dass diese Innenwelt als äußere Realität geschildert wird, sich also in der realen Welt abzuspielen scheint, hat einige pikante Folgen. Legt man dem Roman die gnostische Überlegung zugrunde, dass die Welt nur der Traum eines Gottes sein könnte, dann vertritt Dostoevskij die Auffassung, dass Gott wahnsinnig geworden ist. Die Spaltung der Welt in Reiche und Arme, Gute und Böse, Schuldige und Unschuldige ist das Symptom für diese Krankheit. Das Aussenden Christi in diese Welt wird damit, wie die Aussendung Myškins in das innere Russland des Irrenhausinsassen, zu einem Versuch Gottes, sich selbst vom Wahnsinn zu heilen. In der Überwindung der göttlichen Geisteskrankheit, in der Vereinigung der gesellschaftlichen Abspaltungen liegt die Rettung der Welt, denn dann wird Gott wieder sehend und sichtbar. Für die Figur des Narren bedeutet es aber, dass Dostoevskij im Idioten dessen höchste Erscheinungsform gestaltet hat: Gott selbst .
Dostoevskij: Die Teufel
Dieses Doppelspiel von bösen und guten Narren und Wahnsinnigen steigerte Dostoevskij noch in seinem Roman »Die Teufel«, der bei uns meist nur unter dem leicht irreführenden Titel »Die Dämonen« bekannt ist. Eine ganze Lawine böser Geister bricht über eine kleine Gouvernementsstadt herein, angeführt von den beiden reinsten Verkörperungen des Bösen, die die Weltliteratur aufzuweisen hat: Nikolaj Stavrogin und Petr Verchovenskij. Am ehesten zu fassen sind diese beiden durch eine Stelle aus der Johannesapokalypse, wo ein Drache mit sieben Häuptern und zehn Kronen über die Erde herrscht, der von einem zweiten Drachen mit zwei Häuptern begleitet wird. Stavrogin, der erste Drache, hat sich in mehrere atheistische Ideen gespalten, die von anderen Figuren des Romans Besitz ergriffen haben. Verchovenskij, der zweite Drache, veranstaltet durch das Aussäen von Gerüchten einen Skandal bei einer Dichterlesung, der von einem Aufstand der Fabrikarbeiter begleitet wird und schließlich in Mord und Totschlag ausartet. Um seine Mittäter enger an sich zu binden, lässt er alle gemeinsam den Abweichler Šatov umbringen, was aber ungewollt zur Aufdeckung der ganzen Verschwörung führt. Verchovenskij flieht in die Schweiz, Stavrogin begeht Selbstmord. Die revolutionäre Apokalypse ist noch einmal abgewendet.
Das närrische Moment ist bei diesen beiden Hauptfiguren des Romans zugunsten des Dämonischen stark gedämpft und klingt nur noch in ihrem doppeldeutigen Erscheinungsbild an. Verchovenskij ist ausnehmend höflich und von einnehmenden Charakter, Stavrogin handelt fast wie ein Christus, wenn er eine empfangene Ohrfeige trotz Bärenkräften einfach einsteckt oder bei einem Duell offensichtlich auf die Tötung seines Gegners verzichtet. Außerdem hat er aus Mitleid eine Behinderte, Marja Lebjadkina, geheiratet, die von ihrem versoffenen Bruder, einem Hauptmann, der bei Sevastopol gekämpft haben will, häufig geschlagen wird.
Diese Geschwister erinnern stark an die volkstümlichen Dienerfiguren, wie sie aus der Commedia del Arte bekannt sind und verdienen wegen ihrer offensichtlichen Narrheit unser besonderes Interesse. Das behinderte Mädchen, vom Chronisten der Erzählung wenig politisch korrekt als Hinkefüßchen bezeichnet, ist von Gott schwer geschlagen: sie humpelt und ist geistig zurückgeblieben. Obwohl noch Jungfrau, glaubt sie ein Kind geboren zu haben, was sie zu einer Karikatur der Gottesmutter macht. Man darf sich aber durch das Mitleid, das diese Figur erweckt, nicht täuschen lassen. Ihr Bruder schlägt sie vor allem dann, wenn sie ihm Befehle erteilt, was auf Anmaßung hindeutet. Zudem betrachtet sie sich ständig in einem kleinen Spiegel, einem Symbol für Eitelkeit und schminkt sich, wie der Chronist zweifach betont, in grellem Weiß und Rot. Ihr Bruder, der Hauptmann Lebjadkin, erinnert mit seiner Trunksucht als Militär an Shakespeares Falstaff. Besondere Heiterkeit erregen seine ausnehmend schlechten Gedichte, die ihn zu einem Urahn unserer heutigen vielbeliebten Trash-Poeten machen.
Diese beiden Figuren besitzen aber eine Bedeutung, die weit über einfache Lebenstragik hinausgeht. Die weiß-rote Schminke der Lebjadkina sind nicht zufällig die polnischen Nationalfarben. Die Gehbehinderung deutet auf die polnische Teilung hin, ein Bein ist unter nicht slawischer Fremdherrschaft gelähmt. Die Schläge durch den Bruder beziehen sich auf die regelmäßigen Strafexpeditionen durch Kosakencorps, mit denen die Polen, die sich gegen die russische Besetzung empörten, gezüchtigt wurden. Der Bruder ist nämlich ein Kosak. Das legen seine angeblichen Kämpfe bei Sevastopol nahe. Auch sein Hauptmannsrang, der auf die bei den Kosaken geläufigen Bezeichnung »kapitan« lautet, macht das deutlich. Seine schlechten Gedichte bekommen somit eine weitere Bedeutung. Im 19. Jahrhundert begann sich nämlich die Ukraine, der Wohnsitz der meisten Kosaken, als eigene Nation zu empfinden und sich vom russischen Mutterland abzuspalten. Ukrainische Dichter hatten in ihrer eigenen Sprache angefangen, Gedichte zu schreiben. Diese Selbstständigkeitsbestrebungen riefen bei den russischen Nationalisten, zu denen auch Dostoevskij gehörte, großen Unmut hervor. Die Befehle, die das Hinkefüßchen ihrem Bruder erteilt, sind ein Hinweis darauf, dass sich die Ukraine lange Zeit auch unter polnisch-litauischer Herrschaft befunden hat.
Dostoevskij treibt im Roman »Die Teufel« seine Verachtung für die Abspaltungsbestrebungen unter den slawischen Völkern regelrecht auf die Spitze. Die Polen als Katholiken und die Ukrainer als Gläubige der Unierten Kirche werden als teuflische Gegner seiner Vorstellung von der Gemeinschaft aller Slawen in der russisch-orthodoxen Kirche gezeigt. Dostoevskij macht auch deutlich, was solchen abtrünnigen Völkerschaften passieren wird: Polen und die Ukraine werden im Terrorismus der Revolution umkommen, denn die beiden Lebjadkins sterben auf bestialische Weise im Feuer.
So grausam Dostoevskijs Prophetie auch erscheinen mag, die Geschichte des 20. Jahrhunderts hätte ihm beinahe recht gegeben. Wenn man an die Überfälle der Deutschen Hitlerarmee und an die Ermordung polnischer Offiziere durch die Sowjetarmee bei Katyn denkt, wird man ein bedrückendes Gefühl von der Größe dieses Dichters nicht ganz beiseite schieben können.
Dostoevskijs bitterböse Weltschau aus Sicht eines orthodoxen Christen auf Atheismus und katholische Abweichler ist sicher der Höhepunkt von Prophetie und genialem Wahnsinn. Hier wird der irrationale Hammer an unsere scheinbar so rationale Welt gelegt. Ein Ausgleich zwischen den konservativ-orthodoxen und progressiv-revolutionären Kräften gelang unter dem Zarismus nicht.
Belyj: Abendliches Opfer
Selbst wo der Dichter-Prophet, der trotz Lermontov in der russischen Literatur eine lebendige Vorstellung blieb, in der Rolle der Gottes- oder Teufelsnarren den Finger auf die tiefen Wunden der Gesellschaft legte, konnte er letztlich den Untergang Russlands in Weltkrieg und Revolution nicht aufhalten. In dieser tragischen Position befanden sich jene Dichter, die in der Nachfolge Dostoevskijs als Symbolisten versuchten, die Zukunft zu enträtseln. Andrej Belyj, ein Dichter der sich philosophisch an Friedrich Nietzsche und Rudolf Steiner orientierte, hat diesem Verhängnis im Gedicht »Abendliches Opfer« den tiefsten Ausdruck gegeben. Und hier verschmelzen Dichter, Prophet und Narr noch einmal zu jener Einheit, die typisch für das Kunstverständnis so vieler russischer Autoren gewesen ist, bevor die kommunistischen Kleinbürger mit einem Netz von Zensur, Exilierung, politischer Verfolgung und Korsettierung der Freiheit der Kunst ein Ende setzten.
Abendliches Opfer
Ich stand herum, ich Narr, –
als Heilgenschein: ein Lüster –
im goldenen Talar,
bestickt mit Amethysten, –
wie Säulen stehn, allein
in weit entfernten Wüsten, –
auf dass das Volk erscheint,
die Füße mir zu küssen …
Hab lange ausgeharrt
ganz selbstverliebt im Träumen …
Der Westen sandte zart,
smaragdgrün an den Säumen
mir einen Gruß von gelblich
teerosengleicher Sieche.
Mein flackergrelles Licht:
es lockte wilde Ziegen.
Auf meinen Ruf erscholl
Geheul feiger Schakale …
Der Kerzen Tränen quolln,
derweil ich bitter klagte:
»Baal-Sebub, sei verdammt –
du Falscher, du Verführer, –
hast Christus mich genannt,
war es nicht dein Geflüster? …
Verflucht seist du, verflucht! …
Nicht einer will mir lauschen …«
In schwindsüchtiger Brust
die Lungenflügel rauschen.
Im Westen leuchtet blass
smaragdengrünes Prangen …
Päonienrot erfasst
die marmorweißen Wangen …
Wie die zerrissnen Ketten
von Perlen, Tränen fließen …
Schnell flohen in die Steppe
die angstverschreckten Ziegen.
August 1903
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