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Anmerkungen zu

Alexander Puschkin (1799 – 1837)

von Eric Boerner

Zu Leben und Werk

Alexander Sergeevič Puschkin gilt bis heute als die Sonne der russischen Dichtung, um die alle anderen russischen Dichter kreisen. Diese überzogen anmutende Metapher erhält ihre Berechtigung dadurch, daß selbst Dichter wie Majakovskij, der ihn vom »Dampfer der Gegenwart herunterstoßen«  wollte, ihm schließlich doch ihre Ehrerbietung darbrachten. Puschkin ist der erste Russe, der sich in der Weltliteratur einen Namen gemacht hat und dort seinen unverwechselbaren Platz einnimmt. Die Maximen seiner Dichtung, u.a. mit möglichst einfachen Worten möglichst viel auszudrücken und die Eigenverantwortlichkeit des Dichters für sein Schaffen, sind in abgewandelter Form von seinen Nachfolgern weitgehend beachtet worden. So zeichnet sich die russische Dichtung bis heute durch Klarheit und Einfachheit bei großer Gedankentiefe aus.

Obwohl er aus altem russischen Adel stammte, verlief sein Leben alles andere als einfach. Er schloß das neugegründete Lyzeum in Car'skoe Selo ab, wo er früh mit seiner literarischen Tätigkeit begonnen hatte, und nahm eine Stellung beim »Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten«  ein. Sein erstes Gedicht veröffentlichte er schon 1814. Im Zentrum der ersten Werke steht vor allem die Liebesthematik. Hinter vordergründiger Leidenschaft und Hingabe kommt aber ein sehr zwiespältiges Moment zum Tragen, das vor allem von der Angst vor Zurückweisung bestimmt ist. Hier wirkte die problematische Beziehung zur Mutter nach, die ihm wenig Liebe entgegengebracht hatte. Daneben stehen aber auch politische Epigramme und Gedichte, die dem aufkeimenden Dekabrismus verpflichtet waren. Sie trugen ihm eine langjährige Verbannung aus Petersburg ein. Puschkin begann viel zu reisen, unter anderem in den Kauskasus und auf die Krim, wo zentrale Werke entstanden: »Der Gefangene im Kaukasus« (1821), »Die Fontäne von Bachčisaraj« (1822). Formal (Versepen) und thematisch (Exotik) zeigen sie eine starke Verwandtschaft mit Byron und sind noch sehr der Romantik verpflichtet.

Auf die Versetzung nach Odessa, wo Puschkin mit seinem Hauptwerk »Evgenij Onegin«  begonnen hatte, folgte 1824 die Entlassung aus dem Staatsdienst und die Verbannung nach Michajlovskoe, einem Gut seines Vaters. Hier fand er über seine Amme Arina Rodionova innigen Kontakt zur Sprache des einfachen Volks. Die häufig anzutreffende These, daß Puschkin durch Vereinigung von Volkssprache, Kanzleisprache und dem Kirchenslavischen eine neue Literatursprache geschaffen hat, ist allerdings stark übertrieben. Diese Synthese wurde schon vom russischen Sentimentalismus (Karamzin) für die Prosa und den Frühromantikern (besonders Žukovskij) für die Lyrik eingeleitet; Puschkin hat dieser neuen Literatursprache lediglich weltliterarische Geltung verschafft.

Die Verbannung bewahrte ihn vor einer Teilnahme am fehlschlagenden Dekabristenaufstand (1825), der durch Unklarheiten bei der Thronfolge nach dem Tode Alexanders I. ausgelöst wurde. Der neue Zar, Nikolaus I., holt den Verbannten zwar nach Petersburg zurück, unterstellt ihn aber seiner unmittelbaren Zensur. Puschkins anfängliche Begeisterung für den neuen Herrscher folgt bald eine harte Ernüchterung. Die Bindung an den Hof dient mehr der Ruhigstellung eines latenten Oppositionellen, als daß sie Zeichen für eine neue Liberalität sein soll. Die Auseinandersetzung mit der kleingeistigen Zensur wird bis zu Puschkins Lebensende immer wieder in seinem Werk thematisiert. Auch national und zarentreu zu verstehende Werke wie »Boris Godunov« (1825) oder »Der bronzene Reiter« (1833) finden auf Grund ihrer Eigenständigkeit und mehrperspektivischen Sicht keinen Anklang bei Hofe.

Obwohl Puschkin über lange Jahre den Ruf eines unverbesserlichen Don Juan in Wort und Tat gepflegt und ausgebaut hatte, – er führte sogar eine Liste seiner Eroberungen, – zeigen sich in seinem Werk doch deutliche Züge einer unterdrückten Homosexualität. Dies sticht besonders in der Novelle »Der Schuss« zutage, wo die eindeutig als Homosexueller zu verstehende Figur des Silvio mit seiner phallischen Pistole sogar die (auch im Russischen) weiblichen Fliegen von den Wänden tilgt und in einer militärisch geprägten, reinen Männergesellschaft haust. Dieser stark dominanten homosexuellen Bedrohung, die sowohl den Erzähler, als auch einen später einführten Adeligen betrifft, kann in der Logik der Erzählung nur durch Heirat und Fürbitte einer Frau begegnet werden. Die Figur des Silvio hat übrigens einen stark biografischen Hintergrund in der Person Pëtr Čaadaevaadaevs, den Puschkin sehr verehrte und dem er einige sehr emotionale Gedichte gewidmet hat. Offensichtlich glaubte Puschkin durch Heirat seinen wohl stark ausgeprägten homoerotischen Neigungen zu entgehen, die auch in der Beschreibung des Evgenij Onegin als männlicher Venus deutlich zutage treten. Interessanterweise ist ja auch Tatjana für Onegin erst interessant, als sie verheiratet ist, zudem noch von einem engen Freund Evgenijs sozusagen männlich befleckt wurde, während er sie als Jungfrau lediglich in brüderlicher Art und Weise lieben kann. Auch German, die Hauptfigur in der Meisternovelle »Pikdame«, ist mehr vom Kartenspiel fasziniert, das man damals vornehmlich unter Männern spielte, als von der sich als heterosexuelle Gespielin anbietenden Lisaveta.

Puschkins verdrängte Homosexualität könnte auch die Erklärung für eine weniger angenehme Seite in seiner Natur sein, nämlich ein sehr stark ausgeprägter Antisemitismus, wie er zum Beispiel in der Ballade »Der schwarze Schal« und dem Dramolett »Der geizige Ritter« durchbricht. In beiden Werken spielen Juden zertrale Rollen, die das Teuflische und Böse Element verkörpern und den Helden ins Verderben zu stürzen versuchen. So kennt das platte Klischee des jüdischen Geldschneiders im »Geizigen Ritter« gleich auch noch einen jüdischen Giftmischer, der helfen kann, dem Helden seinen geizigen Vater vom Halse zu schaffen. Dass der Held danach Prügel androht und seine Drohung beinah noch in die Tat umsetzt, ist dann schon die Entschuldigung für die Pogrome, die gegen die jüdische Bevölkerung im Namen verlogener Rechtschaffenheit auch in Russland verbrochen wurden: Pogrom ist ein russsisches Wort und bedeutet so viel wie »ein bisschen donnern, lärmen«. Für unsere Vertreter der political correctness: Die ironisch-berlinerische »Reichskristallnacht« in eine Reichseinbisschendonnernacht (»Reichspogromnacht«) umzutaufen, zeugt eher von einer Unkenntnis des Russischen als von einem besonders ausgeprägtem Geschichtsbewusstsein. Die sowjetrussische Literaturwissenschaft hat Puschkins Antisemitismus ständig als einen Kampf gegen den nach Russland vordringenden Kapitalismus und deren Vertreter verstanden wissen wollen, was in der falschen Gleichsetzung von Judentum und Finanzmacht natürlich nur selber wieder antisemitisch ist. Dass Stalins Säuberungen in der Kommunisischen Partei vor allem auch immer deren jüdische Mitglieder betroffen haben, braucht wohl nicht besonders betont zu werden.

Sei es, wie es sei. 1831 heiratet Puschkin die schöne, ihm aber völlig wesensfremde Natalja Gončarova. Um die stetig wachsende Familie zu ernähren, gibt er den unsicheren Beruf des freien Schriftstellers auf und geht als Kammerherr bei Hofe in den Staatsdienst. In seinem literarischen Schaffen tritt die von ihm vorher weniger gepflegte Prosa in den Vordergrund, der er neue, vor allem volksprachliche Impulse zu geben vermag. Besonders »Belkins Erzählungen« (1830) und der historische Kurzroman »Die Hauptmannstochter« (1833) seien hier erwähnt. Sein Hauptwerk bleibt aber »Evgenij Onegin«, der als Roman in Versen die Grenzen zwischen Prosa und Poesie aufhebt und gleichzeitig ein ironisch gefärbtes Bild seiner Zeit wiedergibt.

Puschkins vorzeitiger Tod im Duell, er war erst 38 Jahre alt, und die Verstrickung seiner Frau darin, ist bis heute ein stark umstrittenes Thema geblieben. Sicher ist nur, daß Puschkin Zeit seines Lebens an vielen Duellen teilgenommen hat und sie ein wichtiges Motiv in seinem Werk darstellen. Ob nun eine Intrige des Zarenhofes die Ursache war, nur ein aufdringlicher Verehrer Nataljas abgefertigt werden sollte, oder der Dichter gar absichtlich den Tod gesucht hat, um einen guten Abschluß für sein Lebenswerk zu finden (auch diese These gibt es!), mag jeder für sich selbst entscheiden. Denkbar ist durchaus auch, dass Puschkins verdrängte Homosexualität hier in furchtbarer Rache zutage trat. Schließlich hatte er seine Frau Natalja immer wieder ermuntert, mit anderen Männern zu kokettieren (nur durch das Interesse anderer Männer an ihr blieb sie für ihn attraktiv!). Unterbewusst ihrem Mann gehorchen,d hat seine Frau dann die Nähe zu Männern wie dem späteren Duellgegner D'Anthes gesucht, was zum fatalen Ausgang der verdrängten homosexuellen Neigung bei Puschkin führte, die er sonst lediglich in einigen seiner literarischen Figuren ausleben konnte. Alle diese Varianten, und noch eine Reihe anderer hier nicht aufgeführte, bilden einen eigenen Mythos, der keinen geringen Anteil an der Faszination hat, die dieser Dichter ausstrahlt.

Puschkin galt zwar bereits zu Lebzeiten als Russland größter Dichter, geriet nach seinem Tod am 29. 1. 1837 aber als veralteter Byronist vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beim lesenden Publikum in Ungnade. Erst die 1871 bei Errichtung eines Puschkindenkmals gehaltene Puschkinrede von F. M. Dostoevskij prägte das Bild des allumfassenden russischen Genies, in dem alle anderen Völker aufgehen, mit dem der russischen Schüler selbst noch die Sowjetzeit hindurch traktiert wurde. Wie stark dieses Propagandabild des russischen Nationalismus selbst nach Amerika hineinwirkte, kann man schon daran ermessen, dass Nabokov, der in seiner englischen Übersetzung des »Onegin« anmerkte, dass Puschkin nicht richtig Englisch konnte, großen Ärgen mit der amerikanischen Literturkritik bekam. Dabei hatte sich schon Puschkins Zeitgenossen über dessen Versuche, sich selber Englisch beizubringen, mehr als lustig gemacht. Es dürfte dem Sowjetenglisch des 20. Jahrhunderts nicht unähnlich gewesen sein, das man radebrechte, ohne je einen echten Engländer und Amerkaner gesprochen zu haben. Deutsch konnte Puschkin übrigens auch nicht. Ein deutscher Kaufmann, der ihn zufällig kennen lernte, musste sich in Französisch mit ihm unterhalten. So ist Nabokovs Behauptung, Puschkin hätte seine Kenntnisse der Weltliteratur vor allem durch schlechte französische Übersetzungen erworben, wohl kaum von der Hand zu weisen. Auch seine negative Haltung gegenüber der Pressefreiheit (vergleiche das Gedicht: »Nach Pindemonte«) dürfte nur noch in Russland zeitgemäß sein und das sicherlich nicht zum Vorteil dieses Landes, in dem Freiheitswerte leider nur eine geringe Geltung besitzen. Diese hatte Puschkin in seiner Jugend auch noch vertreten, um sie dann angesichts der russischen Wirklichkeit (des so genannten Byt) mehr oder weniger aufzugeben. Es besteht also wenig Veranlassung für eine blinde Verehrung dieses Dichters, wie sie teilweise in Sowjetrussland herrschte, zumal er über einige Charakterschwächen verfügte. Auch das in der Dostoevskij-Tradition überlieferte Verständnis Puschkins als Volksdichter ist sehr zwiespältig: »Der Dichter und die Menge« zielt in seiner negativen Haltung gegenüber den breiten Volksmassen eben auch auf das Volk, das sogar als ungebildeter »čern'« (Pöbel, Schlacke) abqualifiziert wird, welcher der göttlichen Erkenntnis nicht zugänglich ist. Hier kann Puschkin seine Abkunft vom Adel nicht verleugnen und den damit verbundenen Standesdünkel. Er war eben auch ein Kind seiner Zeit und der Umstände, in der er lebte. Und genau so wenig wie man in Deutschland ein unreflektiertes Goethe- oder Schillerbild aufrechterhalten konnte, so dürfte auch in Russland der dostoevskijsche Bronzepuschkin der Vergangenheit angehören. Ein Grund mehr, ihn als das zu lesen, was er wirklich war: ein Mensch mit einer großen dichterischen Begabung, der auch in seinen Fehlern und Schwächen groß war, und vielleicht auch hierin den nachhaltigsten Einfluss auf die russische Kulturgesellschaft hatte und hat.
 

Zu den Übersetzungen

Dem Übersetzer geht es mit Puschkin ein bißchen so, wie dem Musiker mit Mozart. Er ist für den Anfänger zu leicht und für den Könner zu schwer. Tatsächlich scheinen seine Gedichte zunächst keine Schwierigkeiten aufzuwerfen, was Verständlichkeit und Lexik betrifft. Prosodisch ist der vierhebige Jambus mit Kreuzreim die bei Puschkin häufigst anzutreffende Versform. Kein Wunder also, daß viele Nachdichter sich hier ihre ersten Sporen verdienen möchten.

Allerdings führt der Vergleich der Nachdichtung mit dem Original meist zu einer herben Enttäuschung. Die Gedichte klingen in der Übersetzung entweder ein bißchen albern, oder simpel und grobschlächtig. Ein Eindruck, den die Originale in keinem Falle hervorrufen. Diese Erscheinung ist sicher einer der Gründe, weshalb Puschkins Gedichte außerhalb des russischen Sprachraums so wenig Nachhall gefunden haben. Man darf nicht vergessen, daß der »Onegin« als larmoyante Tschajkowskij-Oper bei weitem bekannter ist, als in der erheblich besseren und vielschichtigeren Vorlage.

Ursache dafür ist Puschkins einzigartige Verwendung von verdeckten Stilmitteln, die erst bei äußerst zeitaufwendigen Stilanalysen zu Tage treten und eine so intime Kenntnis des Dichterhandwerks verlangen, wie sie selbst bei eingefleischten Literaturwissenschaftlern selten vorhanden ist. Es ist kein Zufall, daß die beste und weitreichendste Analyse des »Onegin« von keinem anderen als Vladimir Nabokov stammt, der auch ein begabter Dichter gewesen ist.

Puschkins Gedichte sind in aller Regel Wunder an Ausgewogenheit. Dies betrifft sowohl die semantische als auch die prosodische Gestaltung. Seine Rhythmik ist sowohl auf Harmonie ausgelegt, wie es für die Romantik typisch ist, als auch auf Expressivität und Aussage, was bereits auf spätere Lyrik vorausweist. Aber auch inhaltlich spricht ein außerordentliches psychologisches Feingefühl eine Sprache, die sogar in manchen späten Gedichten Bilder und Vergleiche überflüssig werden lassen kann, wie sie sonst für Lyrik als unabdingbar angesehen werden.

Die Gedichte Puschkins, die auf dieser Homepage vorgestellt werden, zeigen die ganze Spannweite seines Könnens. Angefangen vom epigrammatischen Eintrag ins Poesiealbum, über das christlich-weltanschauliche Prophetengedicht, bis hin zum poetologischen Lehrgedicht (Echo). Es fehlt weiterhin weder das sogenannte Gelegenheitsgedicht, bei dem aus einer autobiographischen Situation eine allgemeingültige Gefühlsaussage gewonnen wird, noch die aus dem Volkslied entwickelte Schauerballade.


Für weitergehende Informationen und umfangreichere Übersetzungen
sei an dieser Stelle nur auf folgende Bücher verwiesen:

Biographien:

H. Troyat: Puschkin. München 1959
V. Setschkareff: Alexander Puschkin. Wiesbaden 1963
Juri Lotman: Alexander Puschkin. Leipzig 1989.

Übersetzungen:

Gesammelte Werke. 6 Bde. Frankfurt/M. 1973
Gesammelte Werke. 6 Bde. Berlin 1984/85
Evgenij Onegin (zweisprachig), dt. R.-D. Keil, Gießen 1980
(auch als Piper-Taschenbuch, einsprachig: Serie Piper 690).

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