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[Nikolaj Gumilev]

Stradivaris Geige

von Nikolaj Gumilëv

 

Der Maestro Paolo Bellicini schrieb ein Geigensolo. Singend bewegten sich seine Lippen, die Beine schlugen nervös den Takt und, wie bei einem Aussätzigen, krümmten die langen, dünnen, weißen Arme zerstreut das biegsame Holz des Bogens. Die vielen Schüler des Maestros fürchten diese seltsamen Hände, deren Finger weißen indischen Schlangen glichen.

Der alte Maestro war berühmt und, wahrlich, niemand übertraf ihn in der göttlichen Kunst der Musik. Regierende Herzöge waren bemüht, die Ehre seiner Bekanntschaft zu machen, Dichter widmeten ihm ihre Gedichte, und Frauen warfen ihm, ungeachtet seines Alters, ihr Lächeln und Blumen zu. Doch trotzdem ertönte hinter seinem Rücken ein Getuschel, das den süßen und trunkenen Wein seines Ruhmes zu vergiften trachtete. Es wurde gesagt, dass sein Talent nicht göttlicher Natur sei und er in unvernünftiger Verwegenheit mit den heiligen Überlieferungen der alten Meister brach. Und wie sehr sich die Anhänger des Meisters auch empörten, soviel sie auch auf vom Neid gekränkte Selbstliebe verwiesen, diese Überlegungen waren nicht unbegründet. Weil der alte Maestro niemals zur Messe ging, weil sein Spiel einen ungezügelten Höhenflug zum Unmöglichen, vielleicht sogar Verbotenen, darstellte, und weil er, in seiner hilflosen Ungeschicklichkeit bei hohem Wuchs und dürren Gliedern, an einen traurigen Sumpfvogel aus südlichen Ländern erinnerte.

Das Arbeitszimmer des Maestro glich eher dem Aufenthaltsort eines Schwarzkünstlers als dem eines einfachen Musikanten. Oben befand sich zur Verbesserung der Akustik ein steinernes Gewölbe, kenntnisreich ausgestattet mit Arkaden und reliefartigen Arabesken. In den finsteren Ecken konspirierten Violoncelli, Lauten und eiserne Notenpulte miteinander, die in ihren bedrohlichen Formen an die grotesken Traumgebilde eines Lorraine oder Callot erinnerten.

Das Mauerwerk aber war mit komplizierten algebraischen Formeln bedeckt, die sich zu Rauten, Dreiecken und Kreisen ordneten. Der alte Meister berechnete seine Werke wie ein Mathematiker und bezeichnete die Musik als Algebra der Seele.

Der einzige Lichtblick dieses Raums war ein mit himbeerfarbenem Samt ausgeschlagener Kasten – der Aufbewahrungsort der Geige. Es handelte sich um ein Meisterstück Stradivaris, an dem dieser ganze zehn Jahre seines Lebens gearbeitet hatte. Noch bevor es fertiggestellt war, ging der Ruhm dieses Instruments durch die gesamte kulturelle Welt. Um seinen Besitz stritten sich Herrscher, und der französische König bot so viel Gold für sie an, wie ein starker Esel tragen konnte; der Papst aber: den Kardinalshut. Doch Stradivari ließ sich von diesen verführerischen Angeboten nicht bestechen, selbst versteckte Drohungen missachtend, schenkte er es Paolo Bellicini, der damals noch jung und unbekannt war. Einzig den heiligen Schwur nahm er ihm ab, die Geige unter keinen Umständen aus der Hand zu geben. Und Paolo leistete den Eid. Nur ihr verdankte er die schönsten Stunden seines Lebens, sie ließ ihn die Welt hinter sich lassen, war seine schüchterne Braut, seine leidenschaftlich Geliebte. Sie erstarb in seinen seltsamen weißen Händen, weinte unter den Berührungen des dahinströmenden Bogens. Sogar die verliebtesten Jünglinge mussten eingestehen, dass der Klang dieser Geige melodischer war, als die nächtliche Stimme ihrer Angebeteten.

Es war spät geworden. Das finstere Oratorium alter Meister, die Nacht, ertönte im Garten, erblühte hyazinthenblättrig mit blauen, roten und weißen Sternen – wuchs im farbigen Flimmern bis unter die steinernen Bögen der großen venezianischen Fenster. Mit ihr zusammen stieg in Bellicini eine quälerische Verzweiflung auf, die, wie ein eisiger Wasserstrahl, das ruhige Flackern seines Schaffens auslöschte. Der Anfang des Solos war herrlich. Das herrische Hauptthema ging sofort in das durchsichtige Klanggebilde des Seitenthemas über. Beide begannen einander zu unterbrechen, zu jagen, als wollten sie zielstrebig eine ungeahnte Höhe erreichen, um dort die Weltseele zu pflücken, die in einer vollendeten musikalischen Phrase erblühte. Aber dieser letzte, entscheidende Höhenflug wollte dem Maestro nicht gelingen, obwohl seine Sinne bis zum äußersten angespannt waren, obwohl die untrüglichen mathematischen Berechnungen ihn zu den herrlichsten Schlussfolgerungen führten. Plötzlich peitschte ein schrecklicher Gedanke sein Hirn. Was, wenn sein Können schon im Anfang bis an die äußersten Grenzen vorgestoßen wäre, und er nicht die Kraft hätte, höher vorzudringen? Wenn er aus diesem Grunde das Solo nicht beenden könnte! Abwarten, sich weiter vollenden? Doch dazu war er schon zu alt, und durch Beten erlangte man nur die einfachsten und bescheidensten Dinge der Welt. Voller Verzweiflung griff der Maestro nach seiner Geige, damit sie seine Schaffenskraft bestärkte, ihn über die Grenzen seines Könnens hinaustrug. Umsonst! Die Geige, gehorsam und zärtlich wie immer, lachte und sang, flatterte über den Gedankenströmen dahin. Doch als sie an die engen Grenzen irdischen Schaffens gelangte, verharrte sie wie ein vollblütiges Araberpferd unter dem leichten Druck eines Zügels. Es schien, als wenn sie ihren verzweifelten Freund streichelte, um ihn für ihren Ungehorsam um Verzeihung zu bitten. Die schweren Folianten antiker Dichter schauten finster von den Wänden, als fühlten sie mit der Ungetreuen, als wollten sie an die heilige Demut im Namen der Kunst erinnern. Doch der verbitterte Maestro war solchen Überlegungen nicht mehr zugänglich und schleuderte die Geige verächtlich in ihr Futteral zurück.

Nachdem er sich zu Bett gelegt hatte, warf er sich lange hin und her, und konnte doch nicht einschlafen. Als bedrohlicher Adler kreiste der Gedanke an das unvollendete Solo über seinem Haupt. Schließlich verschloss ihm ein mildtätiger Traum die Augen, minderte den stechenden Schmerz in den Schläfen, trug ihn schmeichelnd durch einen langen Korridor, der sich immer weiter zu einem strahlenden Licht öffnete, in eine unbekannte Ferne. Etwas Liebes und Vergessenes verströmte süße Gerüche ringsum und in seinen Ohren ertönte das lästige Motiv einer Tarantella. Plötzlich fühlte Paolo, dass er nicht allein war. Neben ihm, vielleicht schon sehr lange, stand ein kleiner munterer Unbekannter mit einem schwarzen, lockigen Vollbart und stechenden Augen: So wurden in alter Zeit die Minnesänger dargestellt. Seine nackten Arme und Beine waren mit grauen, schwarzen und rosenfarbenen Perlenschnüren umwickelt und die märchenhaft glänzende Seide seiner purpurnen Tunika hätte selbst die kapriziösesten Lustknaben des Sultans von Konstantinopel um den Verstand bringen können. Zutraulich lächelte Paolo seinem Gesellen zu, der mit angenehm tiefer Stimme zu sprechen begann:

»Schon seit der ältesten Zeit beschäftige ich mich mit der Vollendung des Klangs. Und als Stradivari seine erste Geige herstellte, war ich sofort begeistert und bot ihm meine Hilfe an. Doch der starrsinnige Alte wollte nichts von einem Pakt mit mir wissen und betete die ganze Zeit über jenes Kreuz an, von dem zu hören mir schon zuwider ist. Ich ahnte schreckliche Dinge voraus. Die Menschen hätten die höchste Harmonie erreichen können, die sonst nur meiner geliebten Zaubergeige vorbehalten ist; und das nicht in meinem Namen, sondern in Seinem. Besonders erschreckte mich die Anfertigung jener Geige, die du jetzt in Händen hältst.

Vielleicht noch ein Jahrtausend solch konzentrierter Arbeit, wie der des Stradivari, und ich hätte mich in die ewige Dämmerung des Nichtseins zurückziehen müssen. Doch zum Glück ist die Geige an dich übergegangen, und du bist nicht stark genug, noch ein Jahrtausend zu warten. Du kannst ihr ihre Unvollkommenheit nicht verzeihen. Heute verfielst du zufällig auf eine Melodie, die ich spielte, als die Hunnen Hunderte unschuldiger Jungfrauen schändeten, die sich in einem Kloster des Frankenlandes versteckt hielten. Das ist ein ganz vortreffliches Stück. Wenn du möchtest, spiele ich es dir vollständig vor.«

Plötzlich erschien in der Hand des Unbekannten eine dunkelrot lackierte Geige, die aussah, wie alle anderen auch. Doch der erfahrene Blick Bellicinis erkannte sofort an der Leichtigkeit ihrer Wölbungen und den Besonderheiten des Schwanenhalses ihre herausragenden Klangeigenschaften, und der alte Maestro wäre vor Begeisterung fast gestorben.

»Ein hübsches Sächelchen!«, lobte sie lächelnd der Unbekannte, »doch starrköpfig und kapriziös wie eine byzantinische Prinzessin. Ständig klügelt sie etwas aus und bringt Melodien hervor, die nicht einmal ich vorausahnen kann. Sogar mir fällt es nicht leicht, sie zu beherrschen.« Und er begann zu spielen.

Es war, als weinte Aphrodite auf den weißen Klippen über einem schaumbedeckten Meer und riefe nach Adonis. Sofort eröffnete sich Paolo alles, wonach er sich seit langem gesehnt hatte. Alles veränderte sich. Fruchtbare Felder wogten im Mittagswind, doch die Ähren leuchteten in einem golden schimmernden Dunkelblau und anstelle der Getreidekörner blitzten purpurne Rubine auf. Eine zauberische Sonne prangte am Himmel, wie eine saftige Frucht am Baum des Lebens. Seltsame Vögel schrien ununterbrochen und Libellen schimmerten in den unglaublichsten Farben. Die Zaubergeige aber tönte und sang, durchdrang Himmel und Erde und verbreitete den Hauch jenes quälerischen, sehnsüchtigen Glücks, den das Herz des Menschen nicht verspüren kann, ohne zu zerbrechen.

In Paolo zersprang etwas. Als er aus dem quälenden Traum erwachte, schimmerten seine Augen so schwermütig, als brächen sich finstere Gedanken in ihnen. Was hatte er davon, dass er sich an die gehörten Melodien erinnern konnte? Gab es denn auf Erden eine Geige, die sie wiederholen konnte, ohne sie zu entstellen? Der böse Dämon hatte durch das Geigenspiel sein Ziel erreicht, hatte mit seinen hinterlistigen Reden das schwache menschliche Herz verwundet.

Die arme Violine! In einer unglücklichen Stunde hatte sie der große Meister in die Hände Paolo Bellicinis gegeben. Sie, die so treu alle menschlichen Gedanken widerspiegeln konnte, die mit den Menschen in ihrer Sprache gesprochen hatte, starb einen überflüssigen Tod! Und der heilige Moment des menschlichen Sieges über die Materie trat in die fernste Zukunft zurück.

Paolo Bellicini pirschte sich wie ein Tiger an das ihm anvertraute Futteral heran. Vorsichtig zog er seine treue Gefährtin heraus und ließ traurig den Kopf hängen, als er zum ersten Mal ihre Unvollkommenheit bemerkte. Doch der Gedanke, sie einem anderen zu überlassen, ließ ihn in einem Anfall von Eifersucht erschauern. Nein, niemand würde sie jemals wieder berühren. Dumpf erklangen die wütenden Tritte eines Absatzes und das leise Stöhnen der zerberstenden Geige.

Die Schüler, die wegen des Lärms in das Arbeitszimmer hineinstürzten, brachten den Maestro zu einem Zufluchtsort für Menschen, die ihren Verstand verloren hatten. Das finstere und geheimnisvolle Gebäude lag an der Stadtgrenze. Von dort waren Schreie und Gebrüll in den Nachtstunden zu hören und die Wärter trugen Schlagstöcke unter der Kleidung, weil sie plötzliche Übergriffe befürchteten. Dort brachte man den Wahnsinnigen in einem finsteren Kellergewölbe unter. Es schien ihm, als wären seine Hände mit Blut bedeckt. Er rieb sie an den rauen Steinwänden und übergoss sie mit dem wenigen Trinkwasser, das man ihm gab. Fünf Tage später fand ihn ein Wärter verdurstet auf und verscharrte ihn nachts an einer geheimen Stelle, die man den Gehenkten und den Gottlosen vorbehalten hatte.

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Übersetzung: Eric Boerner • © Illeguan 2001