Fragen an Aleksandr N. ŽitinskijAleksandr Žitinskij (*1941) ist der leitende Herausgeber des russischen Internetmagazins ART PETERSBURG, das einen Einblick in das kulturelle Leben der Stadt an der Newa gestattet. Seine vielfältigen Tätigkeiten als Autor und Verleger (sein Verlag »Novyj Gelikon« ist auch im Internet vertreten), machen ihn zu einem der herausragenden Gestalter des russischen Netzes und der zeitgenössischen russischen Literatur. Eine russische Version dieses Interviews befand sich auf A. Žitinskijs Homepage unter der Rubrik SETatel' i piSETel' (etwa: NETZsteller und NETZor). Die Fragen stellte Eric Boerner unter Mitwirkung von Natascha Scheremetjewa. |
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Illeguan: | Aleksandr Nikolaevič, sie wurden 1941 geboren, der 2. Weltkrieg und die Nachkriegszeit bestimmten folglich ihre früheste Kindheit und Jugend. Welche Auswirkungen hatte das auf ihr Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen? | |
A. Ž.: | Vermutlich gar keine. Natürlich gruppierten wir uns in der Kindheit, wenn wir Krieg spielten, als »Russen« und »Deutsche«, oder »Faschisten«. Aber hierin bestand, soweit ich mich erinnere, kein bewußter Haß gegen die wirklichen Deutschen oder Deutschland. Später in der Mittelschule*, als ich deutsch lernte, identifizierte ich niemals die deutsche Kultur und die beiden deutschen Staaten (BRD, DDR) mit dem Bild eines Feindes. Solche Gefühle gab es möglicherweise nur bei einigen Menschen, die an den Kriegshandlungen beteiligt waren. |
* vergleichbar unserer Sekundarstufe |
Illeguan: | Auf ihrer »Virtual Ego«-Seite findet sich das Zitat »Internet – das ist eine Form der Unsterblichkeit«. Was verstehen sie unter Unsterblichkeit in diesem doch so flüchtigen Medium? | |
A. Ž.: | Eine Form der Unsterblichkeit stellt jeder gegenständliche Beleg der eigenen Existenz dar. Eine Datei ist nicht schlechter als ein Buch, eine Skulptur, ein Bild oder eine wissenschaftliche Theorie. Genauer gesagt, sie kann sowohl das eine, als auch das andere ersetzen. Das Internet ist in der Lage, alle diese Formen als Hypertext zu enthalten und erlaubt zudem den freien und räumlich unbegrenzten Zugang. Auf einem anderen Blatt steht, wer deine seelische Existenz im Internet aufrecht erhält, wenn es dich nicht mehr geben wird. Doch wenn sie es wert ist, erhalten zu werden, finden sich schon welche dazu. Schließlich geben wir auch die Bücher der Klassiker neu heraus oder bewahren ihre Gemälde auf. | |
Illeguan: | Bei Durchsicht der Mitarbeiter von ART PETERSBURG fällt auf, daß große Namen an diesem Projekt beteiligt sind: Aleksandr Kušner, Boris Strugackij, um nur die auch in Deutschland bekannten zu nennen. Ist der Eindruck falsch, daß die russische Intelligencija schneller die neuen Möglichkeiten des Internets erkannt hat, als zum Beispiel die deutsche, die sich immer noch eher abwartend verhält? | |
A. Ž.: | Dieser Eindruck ist leider eher falsch. Die russische künstlerische Intelligencija, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, nimmt gleichermaßen eine entweder abwartende, oder gar feindliche Haltung ein. Am häufigsten glänzt sie aber durch Ignoranz. Das soll besagen, daß sie vom Internet nichts weiß und auch nichts wissen will. Die Teilnahme Kušners, Strugackijs und anderer im Redaktionskollegium meines Magazins erklärt sich ausschließlich aus dem persönlichen Vertrauen, das sie mir entgegenbringen. Obwohl Boris Strugackij mehr als andere eine Vorstellung davon hat, was das Netz bedeutet, und die elektronische Post für seine Korrespondenz nutzt. | |
Illeguan: | Das Internetmagazin ART PETERSBURG versteht sich als so etwas wie ein Fenster in die Petersburger Kulturszene. In wie weit stimmen kulturelle Realität und seriöser Anspruch des Magazins überein? | |
A. Ž.: | Wenn man unter kultureller Realität die Vorherrschaft der kommerziellen Kunst, des Showbusiness, der Unterhaltung und jegliche Form von Idiotie und Hokuspokus versteht, dann – recht wenig. Aber es gibt verschiedene Realitäten. | |
Illeguan: | Das Netz ist seiner Natur nach ein globales Medium. Das Magazin ART PETERSBURG umfaßt ausschließlich russische Texte. Besteht da nicht die Gefahr einer zu starken Regionalisierung? | |
A. Ž.: | Informationen lassen sich in Sprachen übertragen, die von vielen verstanden werden. Im Internet hat die englische Sprache die Vorherrschaft. Doch Literatur entsteht primär in der Muttersprache, und nur dort. Das Internet ermöglicht den freien Zugang zu Texten und eröffnet die Möglichkeit, diese in andere Sprachen zu übersetzen. Nebenbei bemerkt, sie selbst haben Sergej Krinicyn aus unserer Prosaabteilung ins Deutsche übertragen und stellten die Übersetzung auf ihre Homepage. | |
Illeguan: | Die leidige Frage des Geldes. Wie finanziert sich ART PETERSBURG? Ist es möglich, mit Literatur und Kunst im Internet Geld zu verdienen? | |
A. Ž.: | Zur Zeit handelt es sich um ein unkommerzielles Zuschußprojekt, das sich über die Firma »Nevalink« und meinen Verlag »Novyj Gelikon« finanziert. Bei der Entstehung der Zeitschrift erhielten wir technische Hilfe vom Fond »Kulturinitiative« (Kul'turnaja Iniciativa). In nächster Zeit werden wir verschiedene Formen der Mittelbeschaffung ausprobieren: Werbung auf den Seiten der Zeitschrift, Verkauf von Büchern und anderer kultureller Erzeugnisse, kostenpflichtiger Zugang zu bestimmten Dokumenten. | |
Illeguan: | Ihre Biographie weist Sie unter anderem als Dichter, Prosaist, (Amateur-) Rockmusiker und Organisator von Festivals, Verleger und Autor von Filmszenarios aus. Jetzt auch noch das Internet als Betätigungsfeld. Wo liegen aus ihrer Sicht die besonderen »neuen« Möglichkeiten dieses Mediums? | |
A. Ž.: | Das alles, Gott sei Dank, nicht zur selben Zeit. Ich meine die Dichtung, Prosa, Rockmusik usw. Gedichte schrieb ich bis zum Alter von 35 Jahren. Mit Rockmusik beschäftigte ich mich von 1981 bis 1990. Prosa und Filmszenarios schreibe ich auch jetzt noch, doch in geringerem Umfang. Mein Hauptinteresse gilt zur Zeit – dem Netz. Der unschätzbare Vorteil des Internets für einen Schriftsteller besteht in der schnellen, billigen und effektiven Selbstpublikation. Desgleichen der Empfang vielfältiger Reaktionen durch die Leser. Dieser Umstand kompensiert im bedeutendem Maße das Fehlen von Honorar für die Veröffentlichungen. | |
Illeguan: | Ihr Verlag, Novyj Gelikon, veröffentlicht Volltext-Bücher im Internet. Wird das Buch als Medium bald überflüssig werden oder handelt es sich lediglich um eine großzügige Werbekampagne? | |
A. Ž.: | An ein Verschwinden des Buches glaube ich nicht. Darüber hinaus bin ich sicher, daß die Internetbekanntschaft mit einem nutzbringenden Buch (auch wenn es in Volltext präsentiert wird), lediglich den Wunsch bestärkt, es auch in der »normalen« Papierform zu besitzen. Das schließe ich daraus, daß sich Leser meiner online-Prosa mit der Frage an mich wenden, wo man das Buch kaufen kann, das man im Internet gelesen hat. Auch früher schon, in der Blütezeit der literarischen Magazine in der UdSSR, habe ich niemals die Gelegenheit ausgelassen, ein Buch zu kaufen, das mir schon beim Lesen in der Zeitschrift gefallen hatte*. |
* Es ist russische Tradition, Bücher in Fortsetzungen
vollständig in bestimmten Literaturmagazinen zu veröffentlichen. |
Illeguan: | Im deutschen Internet gibt es rege Diskussionen um eine internetspezifische Literatur, die sich von der traditionellen Literatur abgrenzen will. Gibt es ähnliche Bestrebungen in Rußland? | |
A. Ž.: | Die Literatur verändert sich nicht nur durch das Internet. Aber auch von dieser Seite werden sich Einflüsse auswirken. Das Netz brachte und bringt unzweifelhaft seine spezifischen Genres hervor, die schwer auf Papier zu reproduzieren sind (hyperfiction), aber die Literatur als solche wird bestehen bleiben, dessen bin ich sicher. Die Devise der Veränderungen lautet: kürzer, noch kürzer, so kurz wie nur irgend möglich! | |
Illeguan: | Die Zukunft Rußlands sieht momentan alles andere als rosig aus. Wie lauten ihre Vorschläge, diese Misere zu überwinden? | |
A. Ž.: | Wenn ich hier einen Vorschlag zu machen hätte, wäre ich kein Schriftsteller, sondern ein Politiker. |
Illeguan: Aleksandr Nikolaevič, vielen Dank für dieses Interview!
A. Ž.: Auch Ihnen »Danke schoen!« ;))