Irena Machatschek: Brief an Marie N. |
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Vom Wesen des Unmöglichenvon Irena Machatschek |
An einem warmen Nachmittag ging ich im Zentralgarten der Stadt Wl. spazieren. In einer ungewöhnlichen Blüte der Sinne entfaltete sich die Stadt vor mir. In einer langsamen und erstaunlich zähen Art, mit all ihren Geräuschen und Gerüchen, lag sie entfernt und war dennoch durch die lichten Stellen des Baumbestandes sichtbar und deutlich zu spüren. Das Pulsieren und Atmen der Stadt glich einem großen, undefinierbaren Wesen, mehr Tier als Mensch, das instinktiv und willenlos sich selbst entfloh, in kurzen und stickigen Pausen sich sammelte, um weiter zu eilen, zu eilen in eine ziemlich seltsame, geschlossene Form. Es erinnerte an eine Kohorte, die der Kommandeur sich selbst überlassen hatte, und die, um ihren Marsch nicht unterbrechen zu müssen, sich an der alten Ordnung festklammert, standhaft Schritt hält, und zugleich in einer unheimlichen, inneren Gewissheit die Menschen assimiliert und ihnen einen starken Zusammenhalt gibt. Fast so, als gäbe es keine eigenen starken Bindungen zwischen ihnen. Dies brachte die Menschen dazu, weiter in der gewohnten Art und Weise zusammen zu arbeiten, jeder seiner Funktion und Aufgabe bewusst. Dieser Zusammenhalt erinnerte an eine bunte Gruppe lebendiger Dominosteine, an eine lustige, quicklebendige Armee von Zinnsoldaten. Das alles ging mir durch den Kopf, als ich durch eine Allee von Kastanienbäumen ging, die meist schon älter waren, mir dadurch aber um so prächtiger erschienen. Sie entfalteten ihre dicht mit Ästen besetzten Kronen mit einer Vorsicht, die an ein gewaltiges Schauspiel bunter Vögel erinnerte, das nichts anderes war als Angriff und Anpassung zugleich. Diese großen alten Bäume waren von ihrem vornehm zur Schau gestellten Spiel, einem geschmackvoll vorgetragenen altertümlichen Tanz, so eingenommen, dass sie sogar vergaßen, dass es auf dieser Welt noch Tiere und Menschen, Himmel und Wolken, die Erde und alle die auf ihr lastenden Errungenschaften und Privilegien der Zivilisation gab. So ging ich langsamen Schrittes durch eine Allee nach der anderen, und verließ, unbewusst immer den kürzesten Weg wählend, den Garten. Schon bald blieb er als grüner, saftiger Flecken hinter mir zurück und es eröffnete sich der ersehnte Weg der Straßen, die mir staubig und wesentlich trivialer erschienen und deshalb zu meiner Verfassung eine angemessene Beigabe darstellten. Der Weg wand sich an Gebäuden verschiedenster Art vorbei, in denen eine Epoche die andere ablöste. Jedes war das Denkmal für die minutiöse Art seines Bauherren, der Stein um Stein, jedes Mauerstück, jeden Ziegel und Quader ausgewählt und an seinen Platz gebracht hatte, um sie dort, sei es nun intuitiv einer plötzlichen Eingebung folgend oder nach langer, erschöpfender Überlegung, für alle Zeiten anzubringen. Das Gefühl für die Lebendigkeit der Gebäude drang ungemein tief in meine Seele, so dass es in mir zu brodeln begann, bis eine Art von Licht auch die dunklen Seite der Objekte beleuchtete und mir ihre Zwiespältigkeit eröffnete. Meine Augen wurden zu zwei großen, gierig schluckenden Walen, die die Tiefen der Meere durchquert hatten, um endlich zu einem vorbestimmten, geheimnisvollen Ort zu gelangen, wo sie ihre prächtigen Wasserfontänen in einer lustigen Laune hoch in die Luft spritzten. In der verschwenderischen Gewissheit, ohnehin nicht mehr dort anzukommen, wohin ich gehen wollte, begann ich die einzelnen Straßen zu erkunden. Ich tat es nun wählerischer, ohne die Atemnot des Alltags. Da ich einer schrecklichen Gewohnheit entkommen war, konnte ich mir dies kleine Vergnügen erlauben. Ich schenkte jedem der sonnendurchdrungenen Gebäude einen langen Blick und wählte dann ein bestimmtes aus, auf das ich all meine Hoffnungen richtete und das ich meinem Schutz unterstellte, wie jemanden, der dem Untergang geweiht ist. Als sie der Aufmerksamkeit gewahr wurden, die ich nicht nur dem Gebäude zollte, sondern mit der ich auch die Stimmung der ganzen Stadt einatmete, blieben Passanten stehen und beobachteten mich neugierig. Sie nahmen meine Begeisterung wahr und lachten, wie mir schien, fröhlich in sich hinein, wie jemand, der endlich ausatmen kann und seinen Zustand in freien Zügen genießt. Dennoch sprach mich niemand an und keiner wollte mir auch nur ein einziges Wort erwidern. Dies erschien mir um so sonderbarer, als ich deutlich bemerkte, dass sich immer mehr Zuschauer häuften und schließlich eine größere Menschenansammlung bildeten. Da dachte ich mir, dass es nun an der Zeit sei, den Grund der ganzen Aufregung zu erkunden, und ich wendete mich an einen Herrn mittleren Alters, der in meiner unmittelbaren Nähe stand. Ich fragte ihn, um was es hier eigentlich ginge und weshalb die Menschen mich so eingehend beobachteten. Der Herr, dessen Haar mit weißen Strähnen durchzogen war, der aber dennoch jugendlich wirkte und einen mehr lebhaften als zurückhaltenden Eindruck machte, schien zuerst verblüfft zu sein: »Oh nein, mein lieber Herr, so ist das nicht, interessanterweise ist das Haus, wovor sie stehen, ein Haus mit einer langen Geschichte. Lassen sie sich nicht stören, denn bald gibt es hier eine Versammlung des Rates für die Erhaltung der Stadt. Eine ziemlich ungewöhnliche Angelegenheit.« Seine Antwort klang für mich ein wenig leidenschaftslos. Ich wunderte mich über seine nichtssagende Miene, die ich als Bekundung von Gleichgültigkeit mir gegenüber verstand. Es ist für ihn offensichtlich unmöglich gewesen, mich als einen wohlwollenden Menschen einzuschätzen, mit den guten Voraussetzungen, ein richtig offenes, klares Gespräch zu führen. Ich verstand es auf der Stelle und schickte mich an, zu gehen. Dabei fiel mir ein Freund ein, dessen Art mich an das Auftreten dieses Herrn erinnerte. Er hatte es im Leben nicht so weit gebracht, wie er es nach Talent und Fähigkeit verdient hatte. Deshalb musste er die Vorwürfe seiner Frau auf den Kopf zu ertragen, die mit der Schärfe eines Messers seine Seele zerschnitten und »blutige Worte« fließen ließen. Ich verabschiedete mich von dem Herrn so höflich, wie es mir möglich war und nahm mir vor, das Haus bei nächster Gelegenheit genauer in Augenschein zu nehmen und vielleicht, durch eine freundliche Geste seiner Bewohner, auch einen Blick in sein Inneres werfen zu können. Vielleicht konnte ich auch Zeugnisse seiner Geschichte auftreiben, um so den Wandel seines Aussehens lebendig werden zu lassen. Inzwischen befand ich mich schon in einer anderen Straße, weit weg vom Garten, so als wäre alles das, was ich mir damals gedacht und was ich erlebt hatte, in seinem grünen, duftenden, erdigen Labyrinth bereits in einem anderen Leben geschehen. Nichtsdestotrotz musste ich weiter meiner Arbeit nachgehen, all das, was der Tag mir an Aufgaben stellte, musste noch erledigt werden, ohne weiteren Aufschub. Deshalb ging ich sofort zur Staatsbibliothek und freute mich, dort einen Platz neben dem Fenster zu ergattern, der es mir erlaubte, Bücher, die für mich bestimmt waren, mit Vergnügen durchzuschauen und einige der Begriffe, die ich vorsichtshalber auf einem Zettel notiert hatte, zu entziffern. Ich freute mich um so mehr, als ich eine freundliche Nachbarin zu meiner Seite hatte. Eine Frau mittleren Alters, die mir eher südländisch vorkam und welche in einer natürlichen Weise vollkommen in ein Buch vertieft war. Sie war ebenso verschlossen und distanziert, wie die Menschen, die ich vorhin auf der Straße beobachtet hatte, dennoch besaß sie eine Ausstrahlung, die mich an prächtige, herrlich duftende Blumen erinnerte, deren Seltenheit die Menschen dazu zwang, sie nur in speziellen Behältern, unter bestimmten Bedingungen, durch eigens nur für sie geschaffene Konstruktionen aus Glas und Metall zu halten. Die Unnatürlichkeit solcher Verwahrung war zum Glück nicht von vernichtender, jegliche Regung tötender Wirkung. Es schien, als hätte man genügend Phantasie, um den Raum zu verwandeln und diese exotischen Gebilde in einen ihnen gemäßen Rahmen zu verlegen, so dass die Grausamkeit, all das Zerstörende bei einer solchen Art der Pflege aufgehoben werden konnte und sie in ihren angestammten Herrschaftsraum zurückkehrten. Wenn ich sehr in meine Arbeit vertieft bin, merke ich kaum, wie die Zeit vergeht. Die Dame neben mir, die ich oft beim Aufstehen und Suchen nach einigen Nachschlagewerken freundlich angelächelt hatte, legte ihr Buch behutsam zur Seite, stand auf und verschwand in der Eingangstür des Lesesaales. Ich war nicht traurig darüber, dennoch wunderte ich mich ein wenig über ihre distanzierte Art. Als sie wieder zurückkehrte, bemerkte ich, wie am anderen Ende des Saales ein dunkelhäutiges Paar mit allen nur möglichen Mitteln versuchte, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. Sie ließ Bücher auf den Boden fallen, und dies mit einer Achtlosigkeit, die der freimütigen Gestik einer Königin des Fernen Ostens glich. Er sammelte alle Büchelchen und Zettelchen wieder zusammen, die auf diese Weise abhanden gekommen waren, und dies mit einem Krächzen und Lechzen, dass man dahinter die Seelen tausender Geister in Tausenden von Schlössern der Province vermuten konnte. Als sie dann endlich mit ihrem seltsamen Auftritt fertig waren und all ihre Habseligkeiten zusammen hatten, bemerkte ich, dass meine Nachbarin verschwunden und ihr Platz leer war. Der Stuhl war ordentlich unter den Tisch geschoben. Mit trauriger Stimmung ging ich hinaus und verließ so schnell wie möglich die Straße, an der sich das Bibliotheksgebäude befand. Ich war nicht mehr in der Lage, meine Gedanken zu sammeln. Ich wollte nur noch nach Hause und meiner Mutter einiges erklären. Doch dann ließ ich diesen unglückseligen Gedanken wieder fallen und suchte mir und meinem erschöpften Geist eine Gaststätte, um uns beide zu stärken, so gut wie es eben ging. Als ich beim dritten hellerleuchteten Lokal anlangte, hatte ich das Gefühl, schon längst dort zu sitzen, um nette Leute kennenzulernen und ihnen alle meine Ansichten zu erklären. Ich ging durch die breite, geöffnete Tür hinein. Es war ein fröhliches Ambiente. Ich genoss meinen Aufenthalt in einem Lokal, das voller sonderbarer Dinge war. Nur die unansehnlichen Leuchter schreckten mich ein wenig ab. Mir schien es, als würde ich die Herren am Nebentisch kennen. Deshalb maßte ich mir an, mich zu ihnen zu begeben, sie sogar anzusprechen. Ich versuchte sie zu überreden, mit mir in ein anderes Lokal zu gehen. Als sie ablehnten, fragte ich sie mit aufrichtiger Freundlichkeit: »Darf ich sie denn, meine Herren, wenigstens zu einem Drink einladen?« Darüber waren sie erfreut und nickten zustimmend. Es ist mir nicht mehr möglich, die Gespräche mit ihnen wiederzugeben. Ich weiß nur, dass ich nach dem zweiten Glas zu meiner Brieftasche griff und mir plötzlich Gedanken über mein Benehmen machte. Ich war froh, den Tag nicht durch allzu schreckliche Auftritte verletzt zu haben. Doch meine Habseligkeiten, mein Portemonnaie blieben unauffindbar. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und wusste in der gleichen Minute, dass ich es verloren hatte und bis in die Haarspitzen blamiert dastand. Ich rief mir in Erinnerung zurück, was an diesem Tag passiert war, an meine Hoffnungen, an die Bibliothek und dann, ja dann, wusste ich, dass über allem ein geheimnisvoller Schleier lag. Im Grunde handelte es sich um ein Geflecht von Verbindungen, die ich nicht einmal im Traume hätte enträtseln können. Ich dachte an jene Frau neben mir, auch an das lärmende Paar in der Bibliothek und dann dachte ich wieder an mein fehlendes Portemonnaie. Doch dies alles unter einen Hut zu bringen und den Knoten zu lösen, war ich nicht in der Lage. |