Irena Machatschek: Vom Wesen des Unmöglichen |
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Brief an Marie N.von Irena Machatschek |
Eines Tages überfiel mich der Gedanke, ich muss doch etwas in meinem Leben ändern. Ich wusste, dass in dieser Situation, in der alles seinen richtigen Platz hatte, mein Vorhaben geradezu unmöglich war. Die Welt, die dich umgibt, ist ja geordnet. Es kann ja nicht sein, dass dieses unbestimmbare Etwas, das in der Haltung deines Kreises vorherrscht, einfach nur genommen und sofort durch etwas anderes ausgetauscht werden könnte. Ich kenne die Menschen, die dich veranlassen, so zu denken, wie du jetzt denkst. Ich kenne sie von früher, diese Menschen der Eile. Sie sind nicht bereit, etwas zu verstehen, das auch nur ein klein wenig anders ist als das ihrige; geschweige denn, dass sie dieses andere beim Wort nehmen und mit der Tat vollenden könnten, so geistvoll es auch sein mag. Aber würden sie es assimilieren, wären sie in der Lage, Dich, und dadurch auch sich selbst, in einem anderen Licht zu sehen. Eine solche vorgetäuschte Veränderung, denn es kann sich ja niemals um eine vollkommen neue Erfahrung handeln, brächte sie aus dem Gleichgewicht. Deshalb versuchen sie, alles derartige zu verneinen und mit allen Mitteln noch im Keim zu ersticken. Selbst ein kleine Verschiebung des Geistes, die für mich persönlich von Bedeutung wäre, selbst die würden sie zu einem radikalen Umschwung erklären, und du wärest zwischen ihnen, die Teil deines Lebens sind, und mir, die die Erfüllung all deiner Wünsche ist, die deine Freiheit verkörpert und all das, was dein Leben mit Sinn erfüllt, hin- und hergerissen. Du gleichst, mit anderen Worten, einem Insekt, das an der Oberfläche des Wassers schwimmt, und wärmst dich an dem winzigen Lebensatem, der dir von einer höheren Instanz (vielleicht nur einem Menschen!) eingehaucht wurde. Du plätscherst vollkommen sinnlos im Wasser herum und dennoch ängstigt dich eine Gefahr, die dich ereilen könnte. Der Lebensatem, den ich dir schenken wollte, ist ein anderer. Stell dir vor, du seist ein Schmetterling, der endlich aus seinem Kokon befreit ist, und der, mit einer neuen Idee ausgerüstet, mit den Elementen spielen kann und dem die schönsten Blüten offenstehen. Diese Blüten hat die Natur erschaffen und lässt sie in allen nur erdenklichen Nuancen erklingen. Sie sind eine wahre Pracht für die Augen, ein Genuss für die Sinne, und alles das in den schönsten nur denkbaren Formen. Es ist das Unwahrscheinliche, das die anderen schon als Gedanke abschreckt und sie erzittern lässt. Sie sind doch in ihrem Leben verankert, wie Fischerboote, und wie diese nur vom Zweck bestimmt. Es sind Emporkömmlinge des Nichts, die jede Regung des Gefühls sofort verbieten, die in der Sekunde des Abflugs sogleich ihr »Nein!« herausschreien. Sie würden schon beim Gedanken zerplatzen und deshalb halten sie jene zurück, die das andere wahrhaben wollen, die es kennen, und für die es das eigentliche ist. Du stehst an der Schwelle zu jener Macht, mit der du dein Tun selbst bestimmen kannst, die dir erlaubt, dich so zu bewegen, dass du der ewigen Schnüffelei, mit der sie dich umgeben, zu entkommen vermöchtest. Du trägst doch eine Fackel in dir, die das Feuer an die Zündschnur zum Neuen legt, zu diesem Neuen, das für die anderen niemals Wirklichkeit werden kann. Sie sind in ihrer Art so bestimmend, dass sie sich dich nicht anders als einen glitzerkleinen Stern vorstellen können, der in etlichen Millionen Jahren zusammen mit dem Neuen, das ich dir bringe, in einer gewaltigen Explosion aufstrahlen wird. Im Grunde sind wir jetzt unwissentlich, später voll und ganz ausgelöscht. Die Existenzberechtigung wird uns verweigert. Doch bis zu diesem Punkt scheint der Weg noch sehr weit zu sein. Du fröhliches Wesen, wie konntest du nicht ahnen, dass es so weit kommen wird? Darum wirkt jedes Erzittern auf dich wie eine Schocktherapie, und du sitzt mit geschlossenen Lippen da. Dennoch lächelst du ein wenig, denn du weißt, dass jedes Zucken wissentlich oder unwissentlich das Ende deiner Freunde mit der Leichtigkeit einer schrecklich langen Minute herbeiführen kann. Willst du diesen Zustand noch lange, durch alle diese kalten Jahrhunderte durchstehen? Ich weiß, dass du es kannst, aber ich bitte dich, es nicht zu tun. Denn deine Tat sollte anderen helfen, jetzt und in dieser Minute. Ich möchte dir die Flügel verleihen, die dich und andere erlösen können. Es ist ein nicht anerkanntes Leiden, ein Allwissender unter Unwissenden zu sein, die eine Erkenntnis nicht wahrhaben wollen. Dies Wissen ist das einzige, das du jetzt unter dem Herzen trägst und mit einer gewissen Kälte und Lässigkeit vor dir herschiebst. Und es werden deine Leute sein, jene, die du als deine Freunde ansiehst, die sagen werden: »Nein, so ist das nicht! Bleib wie du bist. Gemeinsam werden wir es schon schaffen«. Ich könnte in meiner Begrenztheit warten. Nur ist es so, dass ich das Warten mit Gefühl ausfüllen muss. Denn angeblich ist es nur ein winzig kleiner Schritt, den man tun muss, um so zu werden, wie es der Alltag von einem fordert, um so zu werden, wie eben all diejenigen, die nicht einmal ihren Kopf heben wollen und mit geschlossenen Augen durch die Welt gehen. Ein Auge ist offen, das andere schließe ich langsam. Dennoch bestehe ich darauf, auf dich zu warten, um endlich das zu vollbringen, was man nur durch Kühnheit vollbringen kann. Erfreue dich an dir selbst, denn ich komme vielleicht mit der Zeit in Vergessenheit, was in meiner Sprache Dunkelheit bedeutet. Dann werde ich beide Augen geschlossen haben, und du wirst mich nicht mehr retten können. Aber noch kannst du mich retten. Und das wäre eine Prüfung, die einer ganzen Kompanie zur Ehre gereichte, die alle die Menschen, die dir unbekannt sind, mit Stolz aber auch Scham erfüllte, weil sie ja so lange einzig auf Gott vertraut haben. Als wäre Gott eine Lösung, die sich ohne weiteres ergibt, ohne alles Sterben. Als würde der Verkäufer eines Fleischgeschäfts die Ware nicht mehr nur anbieten, sondern sie gleich über die Theke reichen, damit die Kunden sie sich teilen können. Sie würden sie doch nur wild herunterschlingen, um dann nach mehr zu verlangen. Wie ein sinnloses Wortgefecht, wie eine Aufführung auf einer Bühne, bei der niemand den anderen mit sich selbst konfrontiert, weil sonst das Stück zu Ende gehen könnte. Das Publikum müsste sich erheben und würde sich mit feurigen Augen etwas fragen. Dann würde es beginnen, sich immer schneller und schneller zu entfernen, um das eigene Hab und Gut zu retten. Im Garderobenraum herrscht plötzlich ängstliche Bedrängnis. Jemand verliert aus Erschrockenheit seine Brille. Ein anderer tritt darauf und bemerkt das Splittern unter seinen Füßen nicht. In ihrer Verwirrung übereilen sich die Menschen immer mehr und mehr. Ein Ehepaar, stolze Besitzer einer Firma, er trägt einen neuen Anzug, sie einen kostspieligen Mantel, verlöre in der allgemeinen Eile eine Nerzmütze und niemand würde es bemerken. Einer jungen Studentin hätte man in der Zwischenzeit mit dem Ellenbogen in den Bauch gehauen, sie litte an Atembeschwerden und müsste ins Krankenhaus gebracht werden. Der junge Mann mit der zerbrochen Brille dagegen irrt die ganze Nacht lang durch die Straßen und weiß, dass er ohne seine Gläser die Straße nicht mehr finden wird, in der er wohnt. Er wird sein Wohnungstür nicht mehr öffnen können. Die nicht mehr erkennbare Stadt gleicht einem Zimmer, das mit Anmerkungen vollgestopft ist: Zettel mit Arztterminen, Kärtchen von Freunden, die etwas in ihrem Leben erreicht haben, notierte Telefonnummern aller Art. So irrt er müde durch die Straßen, wie jemand, dem man alles genommen hat, und starrt die wenigen Menschen, die ihm begegnen, mit leeren, gleichgültigen Augen an. Ich weiß nicht, was mit diesem Mann geschehen ist. Ich hoffe, dass er zu seinem Recht kommt, und dass er das, was ihm verlorenging, wiederfindet. Darum bitte ich dich, gib das Suchen nicht auf. Du kannst in der Entfaltung des Geschehens aufgehalten werden, trotzdem solltest du mit klarem Bewusstsein weiterschreiten. Dies erfordert Kraft, und diese Kraft möchte ich dir geben, alles möchte ich mit dir teilen und für dich, wenn es sein muss, auch sterben. Vergib mir diese bedrohlichen Worte. Ich habe überlebt, weil ich die Jahrhunderte in nur einem Schritt hinter mir ließ und heute hierher gelangte, um der Menschheit das schönste Geschenk ihrer Wahrheit zu übergeben: Dich. Mit aller Gewalt werden sich jene sträuben, die dies für überflüssig halten. Die Sonne wird ihr Hirn so aufweichen, dass sie dich unwissentlich zu den ihrigen zählen werden. Es ist ein gewaltiger Schritt, sich plötzlich loszureißen. Du bist noch im Zweifel, doch dein Gefühl für die Allgemeinheit überwiegt. Die anderen haben nicht diese Wahl, dennoch darfst du keine Milde walten lassen, denn die Unwissenheit kann sehr schnell ihre ekligen, klebrigen Flügel ausbreiten und dann wird sie alles Edelmütige vernichten. Sei stark und mutig. Ich habe dir das Schwert übergeben und muss wieder verschwinden. Sei stark auch für mich. Für dich und mich gibt es keine andere Alternative. Sei zuversichtlich, dass wir uns im nächsten Jahrhundert wiedertreffen, denn dann werde ich kommen, um mein blutglänzendes Schwert zurückzufordern … |