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Der Inhalt des Panthers

von Eric Boerner

Nach meiner Interpretation des Wortrhythmus von Rilkes Panther möchte ich nun noch etwas zum Inhalt dieses Gedichtes hinzusetzen.

Bevor ich detailliert auf den Inhalt eingehe, erst einmal einige allgemeine Bemerkungen zur Interpretation von Gedichten.

Grundsätzlich ergeben sich hier zwei Ansätze, die sich logisch aus der Natur der Sprache ableiten lassen. Jedes Wort ist seinem Wesen nach dual angelegt. Es setzt sich aus dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten zusammen. Das Bezeichnende für sich genommen besteht aus dem Klang des Wortes, seiner rhythmischen Struktur und seiner grammatikalischen Eigenschaft, die von der Syntax beeinflusst wird. So ist etwa der Panther in der Überschrift des Gedichtes klanglich ein /panter/, rhythmisch ein trochäisches Wort (*>) und grammatikalisch ein Nominativ Singular. Diese Angaben sind so dermaßen exakt und verifizierbar, dass die materialistische moderne Literaturwissenschaft einen wahren Narren an solchen Bestimmungen gefressen hat. Es gab Wissenschaftler im 20. Jahrhundert, die Loblieder auf Partizipialkonstruktionen singen konnten, solche, die das Dichten als das Erfinden von grammatikalischen und klanglichen Strukturen ausgeben wollten, während der Inhalt so etwas Wuseliges und Undeutliches ist, dass er den wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt. Dies ist tatsächlich auch so, aber ich kenne keinen Dichter, der erst einmal einen Wissenschaftler fragen würde, bevor er zu schreiben anfängt. Denn diese ganzen unbestreitbar großartigen Partizipialkonstruktionen, Nominative, etc. machen nur die eine Hälfte eines Gedichts aus. Und die andere? Tja, das ist eben das Bezeichnete, oder einfach der Inhalt.

Eine so einfache Einteilung in Klang, Rhythmus und Syntax erlaubt der Inhalt in aller Regel nicht. Um genaue Abgrenzungen vorzunehmen muss man das Weltbild des Dichters, seine Wahrnehmungsweise und seine Poetik ziemlich gut kennen. In aller Regel ist es aber so, dass man als Ausgangspunkt drei Grundebenen annehmen kann, die erst im Fall, dass sie keine vertrauenerweckenden Ergebnisse liefern, modifiziert werden müssen.

Die erste Ebene ist die der im Gedicht simulierten Wahrnehmung. Also das, was der Dichter uns durch Worte Sehen, Fühlen, Hören, Schmecken macht. Dann folgt die psychologische Ebene. Hier geht es nicht um das vom Leser emotional Wahrgenommene, sondern um die dargestellten Emotionen. Ein teuflischer Unterschied! Häufig, allzu häufig, überschreibt der Leser nämlich die psychische Darstellung des Dichters durch seine eigene Gefühlswelt. Dies ist natürlich nicht verboten, aber letztendlich eine Missachtung der dichterischen Absicht. Wer einfach nur in seinen Gefühlen schwelgen möchte, sollte besser zum deutschen Schlager greifen, ein Rilke oder sonst irgend ein richtiger Dichter ist für eine solche Haltung überflüssig.

Als dritte Ebene taucht häufig eine philosophische Verallgemeinerbarkeit des Gedichtinhalts auf. Hier geht es darum, was das Gedicht zu einer allgemeingültigen Aussage über die Welt macht. Diese Aussage kann durchaus auch politisch sein, wie etwa bei Brecht, aber hier darf man nicht vergessen, dass Brecht sich dann meistens auf Marx und so weiter bezieht, was dann ja auch wieder voll ins Philosophische lappt.

Aufmerksame Leser werden in diesen Ebenen die platonische Einteilung in Körper (das Wahrnehmbare), Seele (die psychische Natur des Menschen) und Geist (das ins Große Verallgemeinerte, Göttliche) wiederfinden. Ein alter Scheiß? Sicher, aber auf diesem alten Scheiß beruht fast unser gesamtes Denken; und so mancher übermoderne Kopf würde sich die Haare raufen, wenn er wüsste, wie tief er selber noch darin verstrickt ist. Diese Dreiteilung ist, wie bereits erwähnt, ja auch nur als Ausgangspunkt gedacht. Jeder darf es sich so kompliziert und einfach machen, wie er will, die Dichtung ist ein freies Land, während die Prosa bekanntlich nur ein weites Feld ist.

Die Inhaltsebenen sind aber nicht von alleine da, sondern entstehen erst durch die Arbeit des Dichters, sie sind das Ergebnis seines gestalterischen Willens. Die Ebenen werden also vom Dichter geformt, was uns darauf bringt, dass auch der Inhalt eine Form besitzt, nicht nur das Bezeichnende, das Kodematerial, mit seinen Sonett-, Oden- und anderen prosodischen Kostbarkeiten.

Im alten Vergleich zwischen dem formenden Weinglas und dem beinhalteten Wein gesprochen, heißt das, das dieser alte Vergleich falsch ist. Das Weinglas ist nicht die Form des Weins, sondern es zerfällt selbst wieder in Form und Inhalt: es ist ein Trinkgefäß (Form), das aus Glas (Inhalt) besteht. Beim Wein ist es dasselbe: er ist eine Flüssigkeit (eine freie Form), die aus Inhaltsstoffen (Wasser, Alkohol, Gerbsäure etc.) besteht.

Wer also meint, dass, wenn er ein Gedicht als Sonett bezeichnet, dann hätte er bereits die Form beschrieben, irrt sich, er hat lediglich die Form des Kodematerials bestimmt, der Inhalt selbst ist darin noch einmal geformt und zwar auf ganz andere Weise. Ein Inhalt hat keinen Rhythmus oder Reime, er kennt auch keine Grammatik, was zwangsläufig auch eine andere Art der Interpretation erfordert.

Der Glasbläser macht aus einem ungeformten Glasklumpen ein Trinkgefäß; dies ist die Arbeit des Dichters am Kodematerial. Der Winzer keltert seinen Wein, er veredelt irgend so einen ungeformten Traubensaft; dies ist die Arbeit des Dichters am Inhalt.

Der gewonnene Wein wird jetzt aber nicht einfach ins Glas geschüttet, sondern mit diesem untrennbar amalgamiert. Es entsteht etwas, das weder ein Glas Wein, noch ein Weinglas ist, es entsteht Kunst. Fehlt dieser letzte Schritt, ist es nur Handwerk.

Jemand, der lediglich mit dem Kodematerial herumspielt, ist ein Handwerker. Jemand, der lediglich große Gedanken produziert, ist ein Handwerker. Erst wenn das Spiel mit dem Kodematerial mit dem Spiel großer Gedanken zusammentrifft, entsteht wirkliche Kunst. Und das ist offensichtlich dermaßen kompliziert, dass es nur äußerst wenig wirkliche Kunst gibt.

Um so ein Kunstwerk zu interpretieren, muss man beides betrachten, das Kodematerial und den sich daraus ergebenden Inhalt, das Bezeichnende und das Bezeichnete. Und das werden wir jetzt einfach mal versuchen.

Was bezeichnet zum Beispiel die Überschrift des Gedichts vom Panther? Zuerst einmal, dass es eine Überschrift ist, das ist klar; und praktisch, denn wir können jetzt das Gedicht über seinen Titel ansprechen, ohne es immer gleich rezitieren zu müssen. Dann etwas, das ein Panther ist. Und hier geht der Tanz schon los. Eine Raubkatze, meinen Sie? Richtig, aber der Titel heißt ja: Der Panther, es handelt sich also um eine ganz bestimmte Raubkatze des Typs Panther, die, wie uns der Untertitel 'Im Jardin des Plantes, Paris' nahe legt, genau da zu finden sein soll. Da das Gedicht schon fast hundert Jahre auf dem Buckel hat, fahren Sie aber besser nicht nach Paris in den Tiergarten, möglicherweise ist die Raubkatze, die Rilke angibt, nicht mehr da.

Der Titel bezeichnet nämlich nur den Panther, der im Gedicht vorkommt, und der eben auch nur ausschließlich da vorkommt. Andererseits wiederum suggeriert uns Rilke, dass er diesen Panther wirklich gesehen hat. Wir sollen uns also einen Panther vorstellen, wie er im Zoo vorkommt. Dies ist eine Anweisung, die wir befolgen sollten, aber trotzdem gibt es diesen Panther nur vorgestellt.

Wie sieht dieses Vieh, das nur noch in einem Gedicht vorkommt, nun aber aus? Wenn Sie Germanisten blamieren wollen, fragen Sie sie einfach mal danach. Meist findet sich als Antwort ein, dass er schwarz ist, was zum Beispiel ziemlich falsch ist. Es handelt sich nämlich eher um einen gefleckten Leoparden, die man früher, und auch heute noch in der Zoologie, Panther nennt. Der schwarze Panther ist nur eine Abart davon, ähnlich einem Albinokaninchen. Obwohl das für dieses Gedicht ziemlich unwichtig ist, der Panther könnte sogar rot, gelb oder weiß sein, da Rilke seine Farbe gar nicht erwähnt, muss ich das einfach mal loswerden. In Rilkes Gedicht 'Archaischer Torso Apollos' nämlich ist es wichtig, weil dieser Torso wie Pantherfelle zu schimmern beginnt und einen am Schluss anblickt, damit man sein Leben ändert. Die Panther- oder besser Leopardenfelle sind gefleckt, und diese Flecken sind Augen vergleichbar, eben jenen göttlichen Augen, die einen am Schluss ansehen.

Diese kleine Alberei mit dem Titel sollte nur deutlich machen, dass der Inhalt eine verdammt schwierige Sache ist, viel schwieriger als etwa ein Nominativ Singular. Der Panther ist also gar nicht da, sondern nur vorgestellt. Kein Ding, wie diese sittenwidrige Bezeichnung 'Dinggedichte' für Rilkes Verse aus den 'Neuen Gedichten' nahe legt: eine Vorstellung im wahrsten Sinne des Wortes ist er, eine Show in Versen. Vorhang auf:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe,
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Ein Zoologe, sofern einer anwesend ist, findet hier nichts Interessantes mehr. Nichts vom Alter des Panthers, seiner Farbe, seiner Herkunft, nur von seinem Blick ist die Rede und dass er müde ist. Und dann ist ihm auch noch so, als ob es tausend Stäbe … Naja, soviel zum Thema Dinggedicht und Rilkes Beziehung zum Naturalismus. Das meiste über den Panther als solchen haben wir nämlich in Titel und Untertitel erfahren, hier ist von etwas ganz anderem die Rede.

Da sind erst einmal die Stäbe, die an seinem Blick vorübergehen. Der bare Unsinn! Stäbe habe keine Beine, können weder gehen, noch kriechen. Als nächstes hält dann der Blick nichts mehr! Haben Blicke etwa Arme, um etwas festzuhalten?

Und hier hört die Alberei auf und die Dichtung fängt an, ernst zu werden.

Linguistisch könnte man sagen, dass es ursprünglich 'Vorübergehn an den Stäben' geheißen hat und Rilke die Sache nur verändert hat, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Ein künstlerischer Trick also. Grammatikalisch ist aus der adverbialen Bestimmung 'an den Stäben' das Genitivattribut 'der Stäbe' geworden. Soviel zur Grammatik. Aber inhaltlich passiert hier weit mehr.

Die Vertauschung der Bewegungsdynamik ist nämlich die reinste Relativitätstheorie! Jeder kennt das Phänomen, dass, wenn er im stehenden Zug sitzt, und neben ihm fährt ein anderer Zug los, während er aus dem Fenster blickt, dass er dann nicht weiß, ob sein Zug fährt oder ob der andere Zug fährt. Der Panther, zumindest sein Blick, ist also nicht in der Lage zu unterscheiden, ob er selbst es ist, der läuft, oder die Stäbe, und dazu muss man schon richtig müde gelaufen sein und die ganze Zeit immer an Stäben vorbei.

Beim Blick, der nichts mehr hält, könnte man von einer künstlerischen Ersetzung des einfacheren 'nichts mehr sieht' sprechen. Aber auch hier ist die Ersetzung keine Spielerei, sondern eine Abschwächung des Nicht-mehr-Sehens. Der Panther ist ja nicht blind, sondern er hält nichts mehr im Blick, fixiert nichts mehr, nimmt die Stäbe nur noch verwaschen wahr. Alles das sind wahrnehmungsphysiologische Beobachtungen, die in das Gedicht Eingang gefunden haben.

Rilkes Gedicht bildet also auf der ersten Ebene Wahrnehmung ab, Sehen, wie er es vielleicht genannt hätte, bewusstes Sehen. Genau dasselbe haben wir auch bei den tausend Stäben. Der Käfig des Panthers hat vielleicht hundert gehabt, aber der Panther ist so unaufmerksam, dass er nicht weiß, wann er wieder beim Ausgangspunkt angekommen ist. Das ist wie bei einem Kreis, der bekanntlich keinen Anfangs- oder Endpunkt hat, wenn man diesen nicht völlig willkürlich festlegt.

Diese Wahrnehmungen stehen aber nicht für sich selbst da, sondern sind dem 'so müd geworden' zugeordnet. Hier haben wir die zweite Ebene des Inhalts, die psychologische. Wir sind aufgefordert, uns mit dem Panther zu identifizieren, seinen Zustand nachzuvollziehen. Die Müdigkeit des Tieres ist eine im Grunde sehr bewegte, tätige Müdigkeit, die in ihrer Dynamik aber sinnlos geworden ist, vollkommen abgestumpft. Wir haben es mit einem Bandarbeiter des Stababgehens zu tun. Der vorgestellte Panther ist auf dieser psychologischen Ebene ein betriebsamer Alltagsmensch, wir kennen ihn, sind es vielleicht selbst. Das Tierchen wird uns plötzlich vertrauter, als die Panther aus den besten Tierfilmen.

Am Schluss dieser Exposition des Themas, und nichts anderes ist die erste Strophe, wird die dritte Ebene aufgeklappt:

Und hinter tausend Stäben keine Welt.

Hier wird das ganz große Fass aufgemacht! Kennen Sie diese lustigen Menschen, die beim Lesen von Gedichten immer nur auf die Reime achten: hält - Welt? Wie einfallslos! Dann passt mal auf, ihr Helden, wie einfallslos der Herr Rilke ist.

Hinter diesem Käfig ist also keine Welt mehr wahrnehmbar. Im Umkehrschluss heißt das, dass der Käfig die Welt ist, und zwar die ganze, zumindest für das Panthertier, und das hat in dem Gedicht das Sagen.

Der Panther in seinem Käfig wird auf der dritten Ebene des Inhalts, der philosophischen, zur Allegorie des Seins in der Welt. Keine ganz neue Idee, die Welt als Gefängnis zu begreifen, aber wunderbar beiläufig inszeniert. Der Panther symbolisiert hier eine bewegte Abstumpfung in der Welt der Erscheinungen, die Stäbe sind die Weltgegenstände, die den Blick über die Realität, über das Reale hinaus, versperren. Wenn Sie einen bekennenden Realisten kennen, schenken Sie ihm das Gedicht, es handelt von ihm. Aber erwarten Sie nicht, dass er es versteht.

Nachdem wir jetzt ansatzweise wissen, wovon das Gedicht handelt, gehen wir einfach mal zur zweiten Strophe:

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Die ersten beiden Zeilen beziehen sich sichtlich wieder auf den Panther in seinem Käfig. Aber die Perspektive ist deutlich verändert. Während in der ersten Strophe vom Blick des Panthers die Rede war, wir uns in seinen Blick versetzt fühlten, ist jetzt unser Blick auf das Tier in seiner Bewegung gerichtet. Eine wunderbare Reihe von Attributen - weich, geschmeidig, stark - die sich auf die Anmut seiner Bewegung richtet, und der bedauerliche kleinste, nein, allerkleinste Kreis, indem das stattfinden muss. Ein herrlicher Kontrast. Eine Apotheose des kraftstrotzenden, tätigen Menschen, der doch nichts weiter zustande bringt, als sich im allerkleinsten Kreise des Erdkügelchens zu drehen.

Die folgenden beiden Zeilen sind ein Vergleich, der sich auf darauf bezieht. Und hier wird es jetzt wirklich schwierig. Was zur Hölle ist ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der noch dazu ein großer Wille steht? Wessen großer Wille? Der des Panthers kann es nicht sein, mit dem wird ja verglichen.

Es ist der Schöpfungswille Gottes, um den die Welt tanzt. Betäubt ist er, weil die Schöpfungsarbeit abgeschlossen ist, das Werk getan ist, er steht nur noch als Zentrum da. Die in die Schöpfung eingegangene göttliche Energie vollführt diesen Tanz von Kraft um das Zentrum herum, das sie hervorgebracht hat. Der Panther ist ein Geschöpf Gottes, das aus der Realität der Schöpfung nicht herausfindet, in ihr gefangen ist.

Die Ebene der Wahrnehmung und die philosophische Ebene, die vorher geschichtet übereinander lagen, sind jetzt als Vergleich nebeneinander gestellt. Das Symbol für das Weltganze, der Panther im Käfig, wird dabei gleichzeitig um die metaphysische Frage nach der Rolle Gottes in der Welt erweitert. Interessant ist dabei auch die Richtung, in welcher der Vergleich arbeitet. Normalerweise benutzt man einen Vergleich, um eine Sache verständlicher, nachvollziehbarer zu machen, hier passiert das genaue Gegenteil. Die leicht verständlichen, eleganten Bewegungen des Panthers werden durch den Vergleich entgrenzt, eine Tragik der Schöpfung spürbar: ein betäubter, von der Schöpfungsarbeit ausgepowerter Gott im Zentrum und darum kreist sinnentleert das Geschaffene, ohne dass dieser Gott-Demiurg darauf noch einen Einfluss hat, ihm einen Sinn verleihen kann.

Die Raubkatze ist die beseelte Schöpfung, der Käfig ist der Kosmos, in den das Lebende eingepfercht ist.

Spätestens hier dürfte mein Spott über die Bezeichnung 'Rilkes Dinggedichte' deutlich werden. Hier geht es eben nicht um kleine Dinge, sondern um das ganz Große. Es sind Symbolgedichte, in denen Rilke versuchte, im Kleinsten das Größte zu erfassen. Und noch zur letzten Strophe.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Es gibt ein Lieblingsaufgabe von Lehrern bei Schulinterpretationen: 'Sucht die Metaphern heraus!' Dann wollen wir mal suchen. Vorhang der Pupille. Das klingt komisch, das muss eine Metapher sein. Richtig, aber was soll das bedeuten, Vorhang der Pupille? Ist hier das Lid, das die Pupille verdeckt, einfach durch Vorhang ersetzt, um einen künstlerischen Reiz auszulösen? Auf der Wahrnehmungsebene bestimmt, aber hier gibt es noch einen metaphysischen Nebensinn, der meist übersehen wird. Denn Vorhang der Pupille kann ja auch bedeuten, dass die Pupille der Vorhang ist. Das klingt zwar auf den ersten Blick bekloppt, ist es aber gar nicht.

Mit unseren Augen sehen wir die reale Welt. Diese reale Welt, die Stäbe der ersten Strophe, verdeckt den Blick in die Nicht-Welt, ins Göttliche. Wird die Pupille, dieser Vorhang, der nichts als Stäbe zeigt, nun aufgeschoben, dann kann der Blick in die Nicht-Welt fallen, also in die Welt hinter der realen Welt, ins was auch immer. Und dann geht ein Bild hinein. Ein Bild des Göttlichen oder ein Bild wie auf einer Ikone, die den Blick ins Göttliche gewährt, wer will das wissen.

Das geht dann durch die angespannte Stille der Glieder. Der Panther ist also zur Ruhe gekommen, er geht nicht mehr seinem Job als Bandarbeiter des Stabablaufens nach, er versucht, so etwas wie Gott zu erkennen. Nicht den Schöpfer-Gott übrigens, der steht ja wie ein alter Ölgötze betäubt in der Mitte des Käfigs, sondern einen andern Gott, einen Gott da draußen, der auf ihn wartet, den Gott der Liebe, wer weiß. Doch dieses Bild hört im Herzen auf zu sein. Es erreicht das Herz zwar noch, kann dort aber nicht leben. Der arme Panther hat sich im Alltag so abgekämpft, dass er einen Bezug zu diesem neuen Gott nicht, oder noch nicht, gefunden hat. Aber ist der, dessen Seelenpupille sich da geöffnet hat, überhaupt der Panther?

Nur sehr bedingt. Erst wenn dieser zur Ruhe gekommen ist und versucht, die Seelenaugen zu öffnen und über das Reale hinauszublicken.

Ganz unbemerkt von uns ist hier nämlich das Lyrische Ich aufgetreten, der Dichter, und gibt sein Statement ab. Auch er ein Mensch des Alltags zunächst, ein Panther, ist er über die Betriebsamkeit und Beschäftigungstherapie hinausgewachsen, versucht, weiter zu blicken, eine höhere Position einzunehmen. Ein Gottsucher, ein Prophet, ein Symbolist, ein Rilke. Und dieser Kerl ist der Meinung, da gibt es außerhalb der Realität der Schöpfung etwas, einen Gott, oder so etwas ähnliches, über das man jetzt lang und breit spekulieren könnte. Allerdings hört das Gedicht hier auf, die Spekulation bleibt also dem Leser überlassen. Wir hatten ja schon erwähnt, dass Dichtung ein freies Land ist.

Nachdem wir den Inhalt zumindest andeutungsweise interpretiert haben, kommen wir zwangsläufig auf die Frage der Form zurück, die diesem Inhalt gegeben wurde.

Hier findet sich so etwas wie eine Entgrenzung. Der Inhalt geht vom konkreten Sehen des Panthers aus, wird dann zu einem Blick auf den Panther von außen in der ersten Hälfte der zweiten Strophe, der durch den Vergleich in der zweiten Hälfte in eine Positionierung des Schöpfergottes im Weltgeschehen übergeht. Am Schluss steht der Versuch der Kontaktaufnahme mit einem anderen Wesen außerhalb des Weltganzen.

Der Inhalt wandert also vom Speziellen ins Allgemeine, wobei die Mitte des Gedichts, die Mitte der zweiten Strophe, eine Art Umschlagpunkt darstellt, an dem das Spezielle ins Allgemeine umkippt. Die spezielle Befindlichkeit des Panthers in der ersten Hälfte kann folglich auf die allgemein metaphysische Schau des Lyrischen Ichs in der zweiten Hälfte geklappt werden. Der Panther spiegelt sich dabei im Lyrischen Ich wieder, und das Lyrische Ich im Panther. Die unendliche Vielfalt der konkreten Existenz fällt parabolisch bis zum Mittelpunkt herab, um von dort wieder in die unendliche Vielfalt des Metaphysischen aufzusteigen, wobei sich Konkretes und Metaphysisches in einander spiegeln lassen, also verglichen werden können. Es schließt sich also kein hermeneutischer Kreis, sondern wir haben die nach oben offene Schale einer Parabel vor uns.

Von dieser Parabel ist kaum mehr als der untere Umschlagpunkt sichtbar. Der Panther im Käfig als pars pro toto für die Gesamtheit der konkreten Welt auf der einen Seite, das Lyrische Ich als pars pro toto für die Sucher nach dem Metaphysischen auf der anderen Seite.

Vereinfachend könnte man sagen, dass das von Gott ausgehende Kreatürliche durch seinen Übergang in das erkennend Menschliche wieder zu Gott zurückläuft, das sich von Gott entfernende Geschaffene in der Erkenntnis des Geschaffenen sich Gott wieder nähert. Natürlich steht hinter dieser Auffassung nicht der alberne persönliche Gott der Kirchen und Sekten mit seinem überbordenden Interesse für Präservative, sondern ein allgemeines Göttliches Prinzip, der kosmische Geist, der vorläufig nur durch ein Bild erkennbar ist, das im Herzen zu sein aufhört.

Wie wenig Rilke sich seinem Wesen nach in den Neuen Gedichten (1907) vom jungen Rilke des Stundenbuchs (1899) unterscheidet, wird einem spätestens dann klar, wenn man das folgende Gedicht aufmerksam liest. Es ist eine frühe, weniger verschlüsselte Variante des Pantherthemas, das mir nun helfen soll, die Richtigkeit meiner Beobachtungen am Panther zu belegen.

Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal
in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, –
so ist's, weil ich dich selten atmen höre
und weiß: Du bist allein im Saal.
Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,
um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.
Ich bin ganz nah.

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
durch Zufall; denn es könnte sein:
ein Rufen deines oder meines Munds –
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut.

Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.

Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.
Und wenn einmal das Licht in mir entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sich's als Glanz auf ihren Rahmen.

Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,
sind ohne Heimat und von dir getrennt.

Die schmale, zufällige Wand sind die Stäbe, das entbrennende Licht ist das Sich-Öffnen der Pupille, von Bildern (Bildern Gottes) ist in beiden Gedichten die Rede. Wenn man einen Unterschied in der Aussage beider Gedichten feststellen will, dann ist es der, dass der Panther bei weitem hoffnungsloser erscheint, der Abstand zu Gott ist größer geworden, die Erkenntnis schwieriger. Der Rest ist Nachdenken.

Eric Boerner, 2003


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