[zurück] Lesen Sie ergänzend auch den II. Teil der
Pantherinterpretation von Eric Boerner:

Der Inhalt des Panthers
oder die Interpretation der Flamingos:
Rilke und die Flamingos

Der Wortrhythmus des Panthers

von Eric Boerner

Der Rhythmus und seine Interpretation sind bis heute das große Geheimnis der Dichtkunst geblieben. Dichter benutzen ihn in der Regel unterbewußt oder sind nicht bereit, erschöpfend über ihn Auskunft zu geben, in der Wissenschaft dagegen gibt es ein Diktat der Exaktheit, dem die schwankende Gestalt des Rhythmus geradezu zu entfliehen scheint. Besonders dort, wo man den Rhythmus lediglich als Abwandlung des Metrums auffaßt und nicht als das eigenständige Phänomen, das er ist (schließlich gibt es ihn auch in der so gar nicht metrischen Prosasprache), landet die Literaturwissenschaft schnell in einer nichtssagenden Genauigkeit, die sogar in Banausentum umschlagen kann: es findet sich nämlich die Behauptung, Rhythmus lasse sich überhaupt nicht interpretieren und er sei seinem Wesen nach inhaltsfremd.

Dieser falschen Schlußfolgerung entgeht man nur, wenn nicht das Metrum Ausgangspunkt der Untersuchung ist, sondern der Wortrhythmus, daß heißt der Zusammenschluß von betonten und unbetonten Silben innerhalb des Wortes selbst, das dadurch einen eigenständigen »Versfuß« bildet. Durch die Vielfältigkeit dieser wortrhythmischen Versfüße wird die Analyse natürlich schwieriger als eine Untersuchung des vergleichsweise simplen Metrums, aber nur so wird der tiefe Bezug zum Inhalt erkennbar, der dem Rhythmus, besonders bei außergewöhnlich guten Dichtern, zu eigen sein kann.

Hierbei ist zu beachten, daß der Rhythmus im Gedicht gleichzeitig in vier Richtungen wirkt. Einmal in Richtung des Metrums, das er als Form konstituiert, dann in Richtung des Inhalts, den er mit seinen Mitteln paraphrasiert und amplifiziert, und in Richtung des Rezipienten, auf den er als ästhetisches Phänomen einwirkt. Auch die vierte Richtung sei erwähnt: der Rhythmus wählt durch seine Betonung bestimmte Klänge (die Vokale und Konsonanten der betonten Silbe) aus und setzt sie mit anderen Betonungen ins Verhältnis, während die restlichen Silben im Versfluß leicht unterdrückt werden.

Glücklicherweise lassen sich diese Richtungen relativ einfach schematisieren, da sie senkrecht aufeinander stehen. Das sieht dann wie folgt aus:

Inhalt
/|\
|
Metrum <-- Rhythmus --> Rezeption
|
\|/
Klang

Schon auf den ersten Blick offenbart dieses Schema seine Verwandtschaft mit magischen Denkweisen, und so gestaltet sich auch die Wirkung des Rhythmus auf den Dichter, oder auf die wenigen Leser, die ein Gedicht von innen heraus wahrnehmen können. Der Rhythmus scheint sich kreisförmig nach allen Seiten auszubreiten, wie die Wasserwellen auf einem Teich. Wirklich verstehen kann ich ihn nur, wenn ich in der Lage bin, dieser kreisförmigen Ausbreitung zu folgen. Folge ich ihr nur in einer Richtung, betrachte ich zum Beispiel nur ihre Bewegung in Richtung des Metrums, enge ich den Rhythmus in seiner Ausbreitung ein und verändere seine Natur so stark, daß er aufhört, Rhythmus zu sein. Wirklich wahrnehmbar ist er nur während der Deklamation eines Gedichts, denn nur hier ist er auch wirklich physikalisch-lautlich präsent; und das bei gleichzeitigem Vorhandensein des kognitiven Inhalts, mit dem er so eng verbunden ist. Wer den Rhythmus eines Gedichtes erfahren möchte, muß es in einer bestimmten Weise laut aufsagen: jedes einzelne Wort für sich betonen, ohne daß dabei Metrum und Satzzusammenhänge verlorengehen.

Allerdings läßt sich auf diese Weise der Rhythmus nicht interpretieren. Er wird mehr erfühlt als verstanden. Er wirkt wie eine Droge, deren Zusammensetzung und Wirkungsweise unbekannt ist. Um der sinnhaften Bedeutung des Rhythmus auf die Spur zu kommen, muß man ihn sichtbar machen. Das gelingt schon mit Hilfe einiger einfacher Symbole, die für die einzelnen Silben gesetzt werden. Das Leerzeichen bildet, wie im normalen Druckbild auch, die Wortgrenze ab. Ich verwende an dieser Stelle folgende Symbole:

Halbe Betonungen werden verwendet, wenn ein im Satzgefüge unbetontes Wort (wie etwa Artikel, Konjunktionen) sich an einer metrisch betonten Stelle befindet (Es wird also nur metrisch, nicht aber satzmelodisch betont). Auf diese Weise werden Metrum und Satzmelodie gleichzeitig im Schema berücksichtigt.

Problematisch ist auch die Schematisierung von mehrsilbigen Wörtern. Im Deutschen ist es nämlich üblich, bei diesen Wörtern Nebenbetonungen zu intonieren. So wird das Wort 'Vorübergehn' nicht nur auf dem 'ü' betont, sondern etwas schwächer auch auf dem 'gehn'. Steht diese letzte Silbe dann auch noch an metrisch betonter Stelle, müßte man ihr zumindest eine halbe Betonung zubilligen. Daß ich das hier nicht mache, liegt einfach daran, daß der Zusammenhang des Wortes graphisch schwerer erkennbar wird, wenn im Schema zusätzliche Pluszeichen erscheinen. Wer es genauer mag, wird sich diese Zeichen zusätzlich eintragen.

Wenden wir diese Schematisierung einmal auf ein Gedicht von Rilke an:

Der Panther 

Im Jardin des Plantes, Paris

Wortrhythmisches Schema 

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
- * - + <*>> - *>
- * <*> + - * - *
- * - + - *> *> *>
- *> *> *> *> *
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
- *> * <*> *> *>
- + - <<*> *> *
- + - * - * - +> *>
- + <* - *> *> *
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
- *> * - *> + <*>
- *> + - * - * <*
- + - *> *>>> *>
- * - *> + - *
Rainer Maria Rilke

Wer dieses Schema zum ersten Mal sieht, wird es zunächst für interessanter halten, als das schon oft gelesene Gedicht. Nutzen wir diese Neugierde einmal aus.

Auf den ersten Blick erkennt man vielleicht nur, daß alle Zeilen mit einem unbetonten einsilbigen Wort beginnen. Das ist vor allem metrisch interessant. Der fünfhebige Jambus (-* -* -* -* -*>) läßt sich nämlich auch als fünfhebiger Trochäus mit unbetontem Auftakt beschreiben (- *- *- *- *- *>). Die deutsche Sprache (und damit auch Rilke) neigt eher zum letzteren, da die überwiegende Mehrzahl der zweisilbigen Worte auf der ersten Silbe, also trochäisch, betont werden. Diese Zwitterhaftigkeit des Jambus zeigt deutlich, daß die Versfüße in ihrer klassischen Ausprägung als Jambus, Trochäus, Anapäst usw. nur gedachte Einheiten sind, die das Phänomen Metrum beschreibbar machen sollen, aber nicht konstituierendes Merkmal eines Gedichtes sind. Im Grunde besagt der Jambus nur, daß ein Vers, der aus unmittelbar aufeinander folgenden unbetonten und betonten Silben besteht, mit einer unbetonten Silbe beginnt, im Gegensatz zum Trochäus, der mit einer betonten Silbe beginnt. Eine Strukturierung bedingen die Versfüße nur für die Daherleierer von Gedichten: »alter - leier - kasten - mann // fangnoch - malvon - vorne - an« oder »seinblick - istvom - vorü - bergehn - derstä - be«. Schön, daß zumindest das Metrum begriffen wurde, schlimm, wenn daraus der Glauben erwächst, dies bedeutete schon alles.

Die Strukturierung hängt nämlich weit mehr vom Wortrhythmus mit seinen Wortgrenzen ab, der die Alterierungen des Metrums gezielt aufteilt und damit erst die ästhetische Wirkung hervorruft. Diese Wirkung kann verschiedenartig sein. Da es vier Hauptrichtungen der Ausbreitung des Rhythmus gibt, gibt es natürlich auch vier Wirkungsrichtungen.

1. Die erste ist die Variation des Metrums, deutlich im Schema erkennbar an den halbbetonten Silben, den Pluszeichen, die metrisch eigentlich voll betont sein müßten. Diese Variierungen verhindern das Leiern, das Hervortreten der langweiligen regelmäßigen Alternation von betonten und unbetonten Silben. Je mehr eine Sprache in der Lage ist, das Metrum zu variieren, um so interessanter wird der Gegensatz zwischen Regelhaftigkeit und Variation und um so ästhetisch reizvoller und wirkungsvoller der rhythmische Bestandteil des jeweiligen Gedichts.

Wichtiger als dieses Phänomen ist aber die Beeinflussung der Betonungsrichtung. Wie bereits erwähnt, gibt das Metrum nur die Alternation der betonten und unbetonten Silben vor, nicht aber in welcher Richtung diese Betonung erfolgt. Im einfachsten Fall, den zweisilbigen Worten, kann die Betonung aufsteigend sein, also von unbetont nach betont (<*), oder fallend, von betont nach unbetont (*>). Im Deutschen ist der zweite Fall ungleich viel häufiger, als der erste. Dies ist auch im Gedicht 'Der Panther' deutlich erkennbar. Jambische Worte gibt es insgesamt nur zwei ('betäubt' und 'hinein'), trochäische Worte aber 22! Dieses Ungleichgewicht würde den deutschen Jambus bzw. Trochäus unerträglich langweilig machen, wenn es nicht die Möglichkeit gäbe, jambische Worte durch das unmittelbare Folgen eines betonten einsilbigen Wortes auf ein unbetontes einsilbes Wort zu imitieren (- * => [<*]). Ein vollwertiger Ersatz ist das natürlich nicht, da die Betonungsrichtung nicht immer eindeutig zu schematisieren ist. Der Versteil »geht durch der Glieder« (- + - *>) läßt sich beispielsweise gleich auf drei Arten zusammenziehen: [<+ - *>], [- +> *>] oder [<+> *>] oder lesbarer: gehtdurch - der - Glieder, geht - durchder - Glieder und gehtdurchder - Glieder. Diese Ambiguität kann die Interpretation erheblich erschweren, in manchen Fällen ist sie aber gerade merkmalhaftig (zum Beispiel bei auch inhaltlich ambiguen Stellen). Glücklicherweise gibt es aber auch eindeutige Stellen, wie zum Beispiel »so müd geworden«: (- * <*>) => [<* <*>], bei denen es nur eine Möglichkeit der Zusammenziehung gibt. Diese Rhythmusfiguren sind allerdings auch dann noch in der Grundform und in der Zusammenziehung vorhanden, und können in diesen beiden Erscheinungsbildern interpretiert werden.

Wichtig bleibt aber die Fähigkeit des Wortrhythmus, dem Metrum Betonungsrichtungen aufzuzwingen, und es dadurch strukturell zu variieren. Die dabei entstehen wortrhythmischen Figuren werden wir noch eingehender interpretieren, wenn wir auf den Inhalt zu sprechen kommen. Im Moment muß das Gesagte genügen.

2. Die Auswirkung des Wortrhythmus auf den Klang soll an dieser Stelle nur kurz angedeutet werden. Die Klangschicht eines Gedichtes ist nämlich in sich wiederum so kompliziert und tragend, daß wir uns in Bedeutungen verlaufen würden, strebten wir eine weitergehende Analyse an. Nehmen wir nur dieses kurze Beispiel: »Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte«. Die betonten Silben treten in eine Interaktion: wei - ga - schmei - star - schrit. In den ersten vier betonten Silben wechseln sich die Vokale a und ei ab und bilden eine Kreuzstellung. In den letzten drei betonten Silben herrscht das 'sch' als Lautgruppe vor, wobei in den letzten beiden noch das 'r' und das 't' hinzutreten.

Diese durch die Betonung herausgehobenen Klänge werden unter Berücksichtigung des Inhalts interpretierbar. Die Kreuzstellung der Vokale am Anfang der Verszeile verstärkt in ihrer Eleganz die weiche Geschmeidigkeit der Bewegungen des Panthers, die Staccatowiederholung des Zischlautes in Verbindung mit dem Dental-'t' und dem reibenden 'r' am Ende der Zeile heben die Festigkeit der 'starken Schritte' hervor. Der innere Widerspruch von Geschmeidigkeit, Weichheit auf der einen Seite und der Stärke der Schritte auf der anderen, kehrt somit auch in der Verschmelzung von Rhythmus und Klang wieder. Der Dichter spricht nicht nur inhaltlich, sondern auch physikalisch - lautlich. Auf der kurzen Strecke der Verszeile verstärken sich Klang und Inhalt gegenseitig und rufen die ästhetische Wirkung hervor.

3. Die Wirkung des Rhythmus auf den Rezipienten (Leser, Zuhörer, Interpretator) ist so vielgestaltig wie es Rezipienten gibt. Wenn das Gedicht keinen Leser hat, gibt es auch keinen Rhythmus. Hat es einen Leser, der anfällig für rhythmische Wirkungen ist, kann sein Einfluß ungeheuerlich sein. Überlassen wir diese Zone dem Chaos, also dem zufälligen Verständnis oder Unverständnis. In diesem Bereich hat keiner Zutritt – außer dem Leser selbst, also alle und keiner gleichzeitig. Jede Interpretation, auch die wissenschaftlichste, unterliegt diesem Einfluß mehr, als manche Wissenschaftler glaubenmachen wollen. Gerade die Zurückdrängung des subjektiven Eindrucks aber, bewirkt eine Verflachung der Interpretation, da ein Gedicht aus der Rezeption lebt und ohne diese zum Verschwinden verurteilt wäre. Die literaturwissenschaftliche Interpretation erscheint dabei als nur eine, wenn auch sehr wichtige und sorgfältige Form der Wahrnehmung eines Gedichts.

4. Welche Beziehung besteht zwischen Rhythmus und Inhalt? Dies ist die eigentlich Frage der vorliegenden Arbeit und wird deshalb sehr eingehend von mir untersucht werden. In gewisser Weise wird in der Wechselwirkung von Rhythmus und Inhalt erst die rhythmische Meisterschaft eines Dichters deutlich. Er mag noch so gewagte rhythmische Figuren verwenden, ohne den inhaltlichen Rückbezug werden sie dem Rezipienten schwach und nichtig vorkommen. Und umgekehrt: feine Steuerungen an den richtigen Stellen werden ihre Wirkung nicht verfehlen, auch wenn sie bewußt nicht wahrgenommen werden.

Nicht zufällig wurde für diese Untersuchung Rilke gewählt, der gerade auch auf diesem Gebiet ein unglaubliches Feingefühl besaß und einen fast sprechenden Rhythmus in seinen Gedichten erzielte.

Schon die genauere Betrachtung der ersten Zeile des Panthers fördert Erstaunliches zu Tage:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / so
=>    - * - + <*>> - *> /-.

Fassen wir nämlich diesen Wortrhythmus satzmelodisch zusammen, ergeben sich drei Wiederholungen der Figur [<*>>], die teils erst aus gewagt erscheinender Zusammenziehung des Wortmaterials entsteht:

Sein Blick ist vom => - * - + => [<*>>]
Vorübergehn => <*>> => [<*>>]
der Stäbe / so => - *> /- => [<*>>]

Die Zusammenziehungen werden durch das Vorhandensein der Figur [<*>>] in der Grundform »Vorübergehn« bedingt. Da die Silbe »gehn« eigentlich eine Nebenbetonung trägt, kommt die Verwandtschaft im Rhythmus noch deutlicher zum Tragen: »vom« und »so« sind ja auch etwas stärker herausgehoben. Durch das Auseinanderziehen dieser Figur an den Außenseiten des Verses und ihrem zusammengezogenen »Vorübergehn« in der Mitte, ergibt sich das rhythmische Bild eines schmalen Gitterstabes, der von längeren Zwischenräumen umsäumt wird. Der lineare Sprechvorgang zieht daran vorbei, wie der Panther in seiner Bewegung an den vorgestellten Gitterstäben vorbeizieht. Ein schlagendes Beispiel für die Verdoppelung von Sprechen und visueller Vorstellung.

Der nächste Vers ist ähnlich gelagert:

so müd geworden, daß er nichts mehr hält.  =>  - * <*> + - * - *

Die ersten drei Worte geben rhythmisch eine Steigerung wieder, die dem prozessualen »geworden« eine besondere Bedeutung verleiht: unbetont einsilbig (so) – betont einsilbig (müd) – dreisilbig mittenbetont (geworden). Diese Betonung des Prozesses der Ermüdung steht in engem Zusammenhang zum Angehen gegen die Monotonie, die den Panther selbst charakterisiert. Zusammengezogen weist diese Stelle als rhythmische Anapher aber auf den Anfang der nächsten Zeile voraus. Wir sprachen schon von der Doppeldeutigkeit solcher Zusammenziehungen.

Darauf folgt eine abfallende trochäische Gruppe, die das nichts-mehr-halten-Können des Pantherblickes apostrophiert:

daß er nichts mehr hält  =>    + - * - *    =>    [+> *> *]

Das Fallen des Trochäus ist dem Herausfallen aus dem Pantherblick gleichgesetzt, allerdings verursacht das einsilbig betonte »hält« hier einen Gegenakzent, der nicht unterschlagen werden soll.

Der Anfang des dritten Verses variiert euphonisch schön im Rhythmus den Anfang der zweiten Zeile, ohne eine besondere inhaltliche Bedeutung herzustellen. Das Komma im zweiten Beispiel bedingt erst die Strukturierung in vergleichbare rhythmische Figuren, die ohne es kaum herzustellen wäre:

So müd geworden => - * <*> => [<* <*>]
Ihm ist, als ob es => - * - + - => [<* <+>]

Gleich darauf findet sich die rhythmisch ausgeprägteste Stelle im gesamten Gedicht:

tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.
=>    *> *> *> / - *> *> *> *> *.

Allein 7 der 22 Worttrochäen des Gedichtes finden sich in diesen zwei Zeilen unmittelbar aneinandergehängt! Der metrische Jambus wird mit einem durchgehaltenen wortrhythmischen Trochäus konterkariert; ein Spannungsverhältnis, wie es stärker nicht sein kann. Der Freiheitsdrang des Panthers trifft auf die unendlich aufeinanderfolgenden Stäbe, Jambus trifft auf Trochäus. Und – um das Maß voll zu machen – hinter dieser Reihe gleichmäßig wiederholter Trochäen verbirgt sich natürlich auch die unerträgliche Monotonie, mit der das gefangene Tier sein Dasein fristen muß, der ewig fortschreitende Schritt, die Wiederholung der Stäbe.

Die erste Zeile der II. Strophe setzt die trochäische Tendenz weiter fort, weitere drei Worttrochäen finden sich, aber der »Gang geschmeidig« (* <*>) mildert die Eintönigkeit und das Spannungsverhältnis etwas ab. Auch das Thema wird jetzt ein anderes: war es in der ersten Strophe die Auseinandersetzung mit dem Gefangensein, geht es in der zweiten um die Kreisbewegung, in der sich der Panther bewegt (im allerkleinsten Kreise, Tanz … um eine Mitte). Diese Kreise finden sich als symmetrische Wortrhythmusfiguren auf der Versebene wieder.

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
=>
=>
=>
- + - <<*> *> *
- + - * - * - +> *>
- + <* - *> *> *
=>
=>
=>
[<+ - <<*> *> *]
[<+ <* <* - +> *>]
[<+ <* - *> *> *]

Die letzte Spalte der obigen Tabelle zeigt deutlich das Gegeneinander von jambischen Figuren an den Versanfängen, denen trochäische Figuren am Versende gegenübergestellt sind. Im ersten Beispiel ist »allerkleinsten« als annähernd mittenbetontes Wort die Spiegelachse, in Beispiel zwei und drei die unbetonten Worte »um« und »ein«. Deutlich wird an dieser Stelle vor allem die Schwierigkeit, in der deutschen Sprache rhythmische Jamben herzustellen: nur ein Wort ist ein wortrhythmischer Jambus, die restlichen entstehen aus der Zusammenziehung von unbetonten und betonten Einsilbern. Trotzdem kann an der Parallelisierung von inhaltlichen Kreisbewegungen und rhythmischen Kreisen (Symmetrieen) kein Zweifel bestehen, die im letzten Vers besonders deutlich hervortritt. Hier wird der Symmetrie zusätzlich die Bedeutung »betäubt« gegeben, da sich Jamben und Trochäen gegeneinander aufheben und im Gegensatz zu den fortschreitenden Trochäen der ersten Strophe stehen.

Ähnlich wie die ersten beiden Verse der ersten Strophe sind auch die ersten Verse der dritten Strophe zu schematisieren. Allerdings sieht die Rhythmusfigur etwas anders aus [- *> *]. Dafür ist sie deutlicher erkennbar:

Nur manchmal schiebt => - *> * => [- *> *]
der Vorhang der => - *> + => [- *> *]
sich lautlos auf => - *> + => [- *> *]

Nur das Wort »Pupille« fällt aus dieser dreifachen Wiederholung heraus. Geben wir, wie ja bereits in der ersten Strophe, solchen Wiederholungen von annähernd identischen Rhythmusfiguren die Bedeutung einer fortschreitenden Bewegung, dann können wir das Aufschieben des Lides dargestellt finden. Die ersten beiden Male werden Augapfel und Iris sichtbar, dann, – als von Rilke auch benannte singuläre Erscheinung, die Pupille,– bis mit der letzten Wiederholung der Rhythmusfigur das gesamte Auge sichtbar geworden ist.

»Dann geht ein Bild hinein«. Jetzt erscheinen also Jamben: - * - * <*  =>  [<* <* <*]. Ein glänzender Gegensatz zum ebenfalls zweiten Vers(!) in der ersten Strophe, wo der Blick im Trochäus nichts mehr halten konnte! Vergleichen wir beide Verse direkt:

so müd geworden, daß er nichts mehr hält. => - * <*> + - * - * => [<* <*>, +> *> *]
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, => - *> + - * - * <* => [- *> +. <* <* <*].

Es ergibt sich, daß Rilke durch Vorverlegung einer starken syntaktischen Zäsur um eine Silbe (das Komma in I,2, der Gedankenstrich mit Punkt in III,2), den Effekt einer Verschiebung von Trochäen zu Jamben erzielt. Dies nur als Hinweis darauf, daß gerade auch die Satzmelodie Einfluß auf die Interpretation des Wortrhythmus haben kann, und einbezogen werden muß.

Der vorletzte Vers des gesamten Gedichts zeigt noch einmal die Darstellung von Bewegung durch ähnliche Wortrhythmen (Trochäen), allerdings wird der »Glieder angespannte Stille« auch innermotorisch wirksam: der Hyperdaktylos (»angespannte«) zwischen den reinen Trochäen (»Glieder«, »Stille«) verschärft die Tendenz zur Betonung der ersten Wortsilbe einerseits, steht aber in der Übertreibung dieser Tendenz auch im Gegensatz zu den Worten, die ihn einschließen. Die Bewegung des Rhythmus (und damit auch die des Bildes, das den Panther durchdringt) wird vorübergehend beschleunigt und erhält eine interessantere Dynamik, als zum Beispiel das monoton trochäische Voranschreiten des Panthers in der ersten Strophe.

»und hört im Herzen auf zu sein«. Das Verschwinden des Bildes ist einerseits natürlich schon im Metrum angezeigt, das um einen ganzen Versfuß kürzer ist, als alle anderen Verse des Panthergedichtes. Aber auch die gesteigerte Ambiguität des Rhythmus in dieser letzten Zeile, der sich nicht konsequent nur auf eine Figur festlegen läßt, trägt die Bedeutung eines Verschwimmens, eines Verschwindens des aufgenommenen Bildes:

und hört im Herzen auf zu sein => - * - *> + - * => [<* - *> +> *]
[- *> *> + <*]
[<*> *> + <*]
[<* <*>> <*]

Die letzte Variante ist dabei sicher die interessanteste, weil sie mit ihren Jamben einen Gegensatz zur trochäisch gelagerten vorhergehenden Zeile bildet. Aber auch hier ergibt sich kein wirklich schlüssiges Ergebnis. Es scheint gerade diese Ambiguität zu sein, die der letzten Zeile dieses Gedichts ihren besonderen Sinn verleiht: eben den des Verschwindens, der Abstumpfung der gefangenen Seele durch Verlust der Außenwelt.

Ich hoffe, ich konnte an diesem kurzen Beispiel aufzeigen, daß eine inhaltliche Interpretation des Rhythmus nicht nur prinzipiell möglich, sondern für das ästhetische Verständnis eines Gedichtes sogar von großer Bedeutung sein kann. Das diese Form streitbar und im Einzelfalle schwer nachvollziehbar sein dürfte, liegt an der schwankenden Gestalt des Rhythmus selbst, der sich einer simplen Klassifikation grundsätzlich entzieht.

Eric Boerner, 1998


© Illeguan 1998 – 2008

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