Nachdem ich mit meiner symbolistischen Interpretation von Rilkes Panther den einen oder anderen Leser begeistert zu haben scheine, möchte ich noch eine andere, weniger tiefsinnige Seite dieses Dichters beleuchten, wobei ich auf ein weiteres seiner Tiergedichte eingehen möchte:
Die Flamingos
Jardin des Plantes, Paris
In Spiegelbildern wie von Fragonard
ist doch von ihrem Weiß und ihrer Röte
nicht mehr gegeben, als dir einer böte,
wenn er von seiner Freundin sagt: sie war
noch sanft von Schlaf. Denn steigen sie ins Grüne
und stehn, auf rosa Stielen leicht gedreht,
beisammen, blühend, wie in einem Beet,
verführen sie verführender als Phryne
sich selber; bis sie ihres Auges Bleiche
hinhalsend bergen in der eignen Weiche,
in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt.
Auf einmal kreischt ein Neid durch die Voliere;
sie aber haben sich erstaunt gestreckt
und schreiten einzeln ins Imaginäre.
Rainer Maria Rilke, 1908
Das Gedicht scheint als Gegenstück zum Panther gedacht zu sein, weil es einen ähnlichen Untertitel verwendet, im Panther heißt es an selber Stelle: Im Jardin des Plantes, Paris. Eine vergleichbare Entstehungsanekdote wie beim Panther scheint es aber nicht zu geben, was darauf hindeutet, dass dieses Gedicht nicht ganz so beliebt ist. Während es beim Panther häufig heißt, Rilke hätte stundenlang Studien an Käfigen im Jardin des Plantes betrieben, bis er seine Verse notierte, sehen wir den Dichter nie mit Flamingos über den Rasen schreiten, was, finde ich, auch ein sehr amüsantes Bild abgäbe. Auch die üblichen Plattköpfe, die im Panther nichts als den Panther, also das materialistische Ding an sich sehen, fehlen in ihrer Dogmatik bei den Flamingos. Das liegt wahrscheinlich an der ersten Strophe, wo sich Rilke über illusionistische Spiegelbilder materialistischer oder naturalistischer Art leicht polemisch mokiert.
Aber lassen sie uns erst einmal die leidigen Formfragen klären. Das Gedicht ist leicht erkennbar ein Sonett, genauer gesagt ein italienisches oder petrarkisches Sonett, wobei Formfetischisten feststellen werden, dass dies nur mit einigen Einschränkungen richtig ist. Rilke variiert die klassische Form: abba abba für die Quatrinen und cde cde, cdc cdc, oder cde dce für die Terzinen, in abba cddc eef gfg. Die Terzinen am Schluss sind also eigentlich keine, sondern eine Paarreimstanze gefolgt von einer Stanze im Kreuzreim: ee fgfg. Dass Rilke für die zweite Quatrine nicht denselben Reim verwendet wie in der ersten, ist sehr typisch für germanische Sprachen wie das Englische und Deutsche, weil diese Sprachen erheblich weniger Reime besitzen als die romanischen, in denen das Sonett erfunden wurde. Diese Reimarmut würde zu einer sehr vorhersagbaren Reimstruktur führen und folglich zu Langeweile, dem ärgsten Feind aller Ästhetik. Der Klangmeister Osip Mandelstam hat nicht umsonst einmal sehr treffend formuliert, dass sich im Italienischen alle Worte aufeinander reimen.
Sehr irritierend für die Sonettform sind auch die beiden Strophensprünge "sie war // noch sanft" und "als Phryne // sich selber". Das Sonett ist auch in der inhaltliche Folge festgelegt, vereinfacht gesagt, bilden die beiden Quatrinen einen antithetischen Gegensatz, der in den Terzinen aufgelöst wird, was bei einer so starken Auflösung der Strophengrenzen natürlich ins Verschwimmen gerät. Syntaktisch schließt die zweite Strophe sogar die erste Terzine mit ein, die dann erst mit einem Punkt den Gedanken abschließt. Das vereinigende Tertium der Gegensätze erfolgt erst in der Schlussterzine, ein Verfahren, dass wir so zugespitzt eher aus dem englischen (Shakespeare-)Sonett kennen, dass nach drei vierzeiligen Stanzen auf einem pointierenden Paarreim endet.
Für den akzentuierenden Vers in germanischen Sprachen dagegen üblich ist die Ersetzung des obligatorischen romanischen Alexandriners durch den fünfhebigen Jambus. Da sich der sehr flexible romanische Alexandriner (ein 12-silber mit Hauptbetonungen vor der Zäsur und dem Versschluss und variablen Nebenbetonungen in den Vershälften) in den germanischen Sprachen in einen äußerst langweiligen sechshebigen Jambus mit Mittenzäsur verwandelt, der binnen kürzester Zeit nach Oma mit Gehhilfe klingt, wird die fünfhebige Variante vorgezogen, die eine unsymmetrische Zäsur, meist nach dem zweiten Versfuß, aufweist.
Dabei wollen wir es jetzt aber bewenden lassen; der Sonettform sind durchaus schlimmere Verbrechen angetan worden, als die hier aufgezählten, und so weit ich weiß, ist noch niemand dafür ins Gefängnis gewandert, nicht einmal Robert Gernhard.
Was das Flamingogedicht im Vergleich zum Panther so unbeliebt macht, obwohl Flamingos ja auch ganz hübsche Tiere sind, liegt wohl daran, dass dieses Sonett auch lexikalisch weitaus komplizierter ist. Wer weiß schon aus dem Handgelenk, wer Fragonard war, was Phryne gemacht hat, oder was man unter einer Volière versteht, letztere zudem noch mit so einem komischen französischen Akzentzeichen versehen, mit dem uns Rilke reindrücken will, dass er lange in Paris gelebt hat und Französisch konnte, was ja auch schon im Untertitel anklingt. Lächerlicherweise muss man das Wort trotz seiner französischen Schreibweise aber deutsch-dämlich aussprechen, damit es sich auf das Imaginäre reimt, was immer das nun wieder sein soll.
Ausnahmsweise bringt das Nachschlagen der Befremdworte hier aber mal etwas Unterhaltsames zutage. Jean-Honoré Fragonard (1732-1806) war ein Maler des Rokoko, der vor allem durch Mädchen auf Schaukeln aufgefallen ist, deren sich hebender Rock einem Galan den Blick auf ihre Unterkleider eröffnet. Gewagt, gewagt! Fragonard ist im Allgemeinen eher für seine leichtlebige Erotik bekannt, als für seine spiegelbildliche Detailtreue, was dazu führte, dass er schon gegen Ende seines Lebens in Vergessenheit geriet. Das Mokieren über Spiegelbilder bezieht sich also eher indirekt auf diesen Maler, in Wirklichkeit meinte Rilke damit naturalistisch orientierte Germanisten, die Kunst nur als Spiegel der Realität verstanden wissen wollen. Und irgendwie sehen die rosigen Mädchen bei Fragonard wirklich ein bisschen aus wie Flamingos, was natürlich eine sehr weitgreifende Interpretation ist, ganz nahe an der verbrecherischen Überinterpretation, die solche Germanisten niemals niemandem durchgehen lassen würden.
Noch erotischer wird es bei Phryne. Hier ist tatsächlich der Sprung aus dem französischen Rokoko in das klassische Griechenland eines Praxiteles vonnöten; das ist übrigens der Bildhauer, dem wir den idealisierten weiblichen Körper verdanken, dem normale Frauen meist nicht im Entferntesten gleichen, es sei denn man verwendet die Morphingfunktionen des Computers. Der Name Phryne bedeutet zu deutsch übrigens Kröte, was als Anspielung auf den grünlichen Teint der betreffenden Dame gedeutet wird. Die hieß eigentlich Mnesarete und war die bekannteste Hetäre des Altertums. Der schon erwähnte Praxiteles hat die trotz ihrer seltsamen Hautfarbe sehr schöne Phryne als Aphrodite in Stein gehauen, was beiden einen Prozess wegen Gotteslästerung einbrachte, der einem auch schon mal den Kopf kosten konnte, beziehungsweise etwas einbrachte, das man nicht so gern hatte: nämlich einen Becher Schierling. Der Redner Hyperides löste ganz unrednerisch das Problem, indem er Phryne sich beim Prozess entkleiden hieß, und offensichtlich hatte sie einen dermaßen göttlichen Körper, dass die hormongesteuerten Richter Gnade vor Rechte ergehen ließen.
Auch die Volière hat etwas mit Vögeln zu tun, allerdings in einem sehr engen Sinne, da es sich einfach um einen riesigen Vogelkäfig handelt, in dem das Geflügel relativ frei herumflattern kann. Das Imaginäre kriesche meh späta.
Bei so viel Erotik wird langsam klar, dass es sich bei den Flamingos offensichtlich um Schmuddelkram handeln muss. Das Gedicht gehört also nicht so sehr ins symbolistische Schaffen Rilkes, als in den dekadenten Bereich des Sittenverfalls, der ein weiteres Charakteristikum jener Zeit war, in der Rainer-Maria seine Werke schrieb.
Das muss aber niemanden hindern, großartige Gedichte zu schreiben, ehrlich gesagt, hat große Kunst ja oft etwas Zweideutiges. Das Dekadente zeigt sich hier aber besonders daran, dass die Worte, die ich eben ein bisschen versucht habe zu erklären, sämtlich auch Reimworte sind, dass heißt, Rilke verwendet sehr gesuchte Reime, um das Gedicht stilistisch aufzuwerten. Was sehr leicht vom Effekt zum Affektierten umkippen kann, und hierüber dann zum Affigen, was auf eine Tierart verweist, die in dem Gedichte glücklicherweise nicht vorkommt.
Aber zur Interpretation. Die erste Strophe eines Sonetts bietet, wie bereits angedeutet, eine These, die in der zweiten eine Antithese erhält, die Terzinen lösen idealerweise diesen Gegensatz dann wieder auf. Was aber besagt folgende These?
In Spiegelbildern wie von Fragonard
ist doch von ihrem Weiß und ihrer Röte
nicht mehr gegeben, als dir einer böte,
wenn er von seiner Freundin sagt: sie war
noch sanft von Schlaf. (…)
Fragonard wird hier als illusionistischer Maler kritisiert, der das Weiß und Rot der Flamingos als oberflächliches Faktum wiedergibt, wobei oberflächlich durch die Aussage eines Mannes charakterisiert wird, der von seiner Freundin nur zu sagen weiß, dass sie noch sanft von Schlaf war. Das letztere klingt zwar sehr poetisch, ist aber nicht wirklich sehr gehaltvoll. Aus der ersten Strophe ergibt sich also die Frage: Was steckt hinter der sanften schönen Oberfläche der Flamingos, die metaphorisch mit schlaftrunkenen Freundinnen in Beziehung gesetzt werden?
Diese Frage wird in den folgenden sieben Zeilen beantwortet. Rilke durchbricht hier im Grunde die Sonettform, weil er die erste Terzine in die Antithese mit einbezieht:
(…) Denn steigen sie ins Grüne
und stehn, auf rosa Stielen leicht gedreht,
beisammen, blühend, wie in einem Beet,
verführen sie verführender als Phryne
sich selber; bis sie ihres Auges Bleiche
hinhalsend bergen in der eignen Weiche,
in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt.
Zunächst einmal steigen die Flamingos ins Grüne, vermutlich standen sie vorher im Wasser, in dem sie sich fragonardgleich gespiegelt hatten, und verwandeln sich, sehr hübsch beschrieben übrigens, in eine Art Blumenbeet und verführen sich selber, noch verführender als die grüne Phryne, die griechische Oberhetäre es tun könnte. Wir haben es hier offensichtlich mit purem Narzismus zu tun, der noch das lockendste Weib als nicht schön genug für die überhobene Selbstliebe zurückweist. Die Verwandlung in Pflanzen ist hier nicht zufällig gewählt, da diese häufig zwittrig sind und in einer Blüte weibliche und männliche Geschlechtsorgane vereinen, weshalb das Heranziehen von Blüten und Bienen in der Sexualaufklärung auch ein ziemlicher Holzweg ist.
Dieser Narzissmus findet seine Vollendung in der ersten Terzine, wo sie die gehalste Bleiche ihres Auges in der eigenen Weiche bergen, oder etwas deutlicher ausgedrückt: ihren phallischen Hals in den vulvaartigen Deckflügel stecken, dessen Schwarz und Fruchtrot sich dem findigen Beobachter in der weiblichen Scham darbietet. Die lustigen Flamingos betreiben hier also eine zwittrige Form der Selbstbefriedigung, nachdem sie sich narzistisch an sich selber aufgegeilt haben. Das Ganze erinnert nachhaltig an indischen Tantrasex, der unter anderem die Selbstbefriedigung in der Gruppe lehrt. An dieser Stelle empfehlen wir das Gedicht nachhaltig für den Sexualkundeunterricht, wo es eine interessante Variante des Ewiggleichen der Fortpflanzung anbietet. Zudem besitzt der leicht gebogene Flamingo-Phallus auch noch ein Auge, mit dem er direkt das Eindringen in die Flügelspalte fokal begleiten kann. Das ist also ungefähr so, als würde man ein Endoskop als Vibrator benutzen. Fragen sie mich aber nicht, ob es zu Rilkes Zeiten schon Endoskope gab …
Nach dieser schockierenden Enthüllung verwundert nicht weiter, was nun folgt:
Auf einmal kreischt ein Neid durch die Volière;
Aber mindestens! möchte man Rilke zurufen. Dass angesichts solcher Ferkeleien die anderen Vögel mit ihren kurzen Hälschen von Penisneid gepackt werden, kann niemanden verwundern. Es ist das Kreischen der üblichen Betbrüder und -schwestern über den Sittenverfall; Päpste und Dompfaffen, Mullahs und andere Kormorane hören wir deutlich aus diesem Gekreische heraus. Und das Traurige: die Flamingos, vielleicht aus Scham, erwischt worden zu sein, strecken sich erstaunt darüber, wie man etwas Ungehöriges an ihrem Tun finden kann und – schreiten einzeln ins Imaginäre.
Auch das klingt ja wieder wunderschön geziert und kann vielleicht so verstanden werden: Nach diesem erzwungenen koitus interruptus durch das neidische Gekreisch, gab es keinen Orgasmus in der versuchten Selbstbefriedigung, die erotische Spannung hält weiter an und imaginiert sich, wird zu einem Traumzustand, in den die Flamingos nun einzeln hinüberdämmern, in das Imaginäre eben.
Und hier, nach all dem dekadenten Schweinkram, wird Rilke wieder zum Symbolisten, der das eben Beschriebene transzendiert, auf eine höhere geistige Ebene hebt. Die Unbefriedigtheit des Flamingos oder des Lebewesens allgemein führt in das Reich der Fantasie und der Vorstellungskraft, in das die Flamingos als von Rilke imaginierte Wesen schreiten, sich der Mensch aber nur hineindenkt. Die Kreativität, das dichterische Schreiben, das Imaginäre wird in diesem Gedicht als Ergebnis der Unmöglichkeit gesehen, in der realen Welt völlige Befriedigung zu erlangen.
In wieweit ist das nun eine Fortschreibung des Panthers? Nun, der Panther war eingeschlossen in der Welt der Erscheinungen, und so abgestumpft, dass er die Bilder aus der anderen Welt, der Welt außerhalb seines Käfigs nicht mehr aufnehmen konnte. Die Flamingos weisen den Weg aus dieser Abstumpfung, indem sie, selbst eingeschlossen in einen Zoo, angefeindet von volieristischen Neidern, sich in das Imaginäre begeben. Rilkes Gedicht »Die Flamingos« ist, wenn man so will, das Hohe Lied des Eskapismus, wie wir ihn bei fantasiebegabten Menschen häufiger antreffen dürfen.
Eric Boerner, 7. 10. 2008