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Der Smaragd

von Ivan Bunin

 

Die nächtliche, dunkelblaue Schwärzung des Himmels in den ruhig dahinziehenden Wolken, die überall weiß sind, nur um den hochstehenden Mond herum hellblau gefärbt. Wenn du lange genug schaust, sind es nicht die Wolken, die ziehen, sondern der Mond selbst, und nahe bei ihm, zusammen mit ihm, fließt die goldene Träne eines Sterns: der Mond verschwindet langsam in der Höhe, die bodenlos ist, und immer höher und höher nimmt er den Stern mit sich fort.

Mit vorgeschobenen Schultern sitzt sie auf der Bank des geöffneten Fensters und schaut, mit zurückgebeugtem Kopf, in die Höhe – im Kopf beginnt es ihr von der Bewegung am Himmel zu schwindeln. Er steht bei ihren Knien.

»Was ist das nur für eine Farbe? Ich kann sie nicht bestimmen! Und sie, Tolja, können sie's?«

»Die Farbe wovon, Kisa?«

»Ich habe ihnen schon tausendmal gesagt, dass sie mich nicht so nennen sollen … «

»Ich habe es vernommen, Ksenija Andreevna.«

»Ich spreche von diesem Himmel dort zwischen den Wolken. Was für eine wundervolle Farbe. Das ist schon die göttliche Wahrheit, auf Erden gibt es sowas nicht. Irgendein Smaragd.«

»Wenn sie schon am Himmel ist, dann ist sie natürlich auch himmlisch. Was ist denn ein Smaragd? Ich habe in meinem Leben noch keinen gesehen. Ihnen gefällt einfach nur das Wort.«

»Ja. Nun, ich weiß nicht, – vielleicht nicht gerade ein Smaragd, sondern ein Saphir … Nur einer von der Sorte, dass es ihn, wirklich, nur im Paradies geben kann. Und wenn man auf diese Weise auf das alles schaut, wie soll man da nicht glauben, dass es ein Paradies gibt, Engel, den göttlichen Thron …«

»Und goldene Birnen an einer Weide …«

»Was sind sie doch verdorben, Tolja. Marja Sergeevna hat schon recht, wenn sie sagt, dass selbst das beschränkteste Mädchen immer noch besser ist, als jeder junge Mann.«

»Die Wahrheit selbst fließt über Marjas geheiligte Lippen, Kisa.«

Sie trägt ein gekräuseltes Kattunkleidchen und billiges Schuhwerk; hat volle Waden und Knie, jungmädchenhaft, ein rundes Köpfchen mit einem kleinen Zopf drumherum, der so lieblich herunterhängt … Er legt eine Hand auf ihr Knie, die andere um ihre Schultern und küsst halb im Scherz ihre leichtgeöffneten Lippen. Sie macht sich ruhig los, schiebt seine Hand von ihrem Knie.

»Was soll das? Sind wir beleidigt?«

Sie lehnt sich mit dem Nacken an den Fensterrahmen, und er sieht, dass sie, während sie sich auf die Lippen beißt, die Tränen zurückhält.

»Was ist denn los?«

»Ach, lassen sie mich …«

»Was ist denn passiert?«

Sie flüstert:

»Nichts …«

Und springt von der Fensterbank und läuft fort.

Er zuckt mit den Schultern:

»Dumm bis zur Heiligkeit!«

3. Oktober 1940

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Übersetzung: Eric Boerner • © Illeguan 2001