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[Daniil Charms]

Von den Erscheinungen und dem Existentiellen

von Daniil Charms

 

Nr. 1

Der Künstler Michel Angelo setzt sich auf einen Haufen von Ziegelsteinen und beginnt, den Kopf auf die Hände gestützt, nachzudenken. Da geht ein Hahn vorbei und schaut mit seinen runden, goldigen Augen auf den Künstler Michel Angelo. Er schaut und rührt sich nicht. Hier hebt der Künstler Michel Angelo den Kopf und sieht den Hahn. Der Hahn lässt seine Augen ruhen, rührt sich nicht und bewegt auch nicht den Schwanz. Der Künstler Michel Angelo senkt die Augen und bemerkt, dass etwas in den Augen kneift. Der Künstler Michel Angelo reibt die Augen mit den Händen. Der Hahn aber steht schon nicht mehr, steht nicht, sondern geht fort, geht fort hinter die Scheune, hinter die Scheune auf den Hühnerhof, auf den Hühnerhof zu seinen Hühnern.

Und der Künstler Michel Angelo erhebt sich vom Ziegelsteinhaufen, klopft sich den roten Ziegelstaub von der Hose, wirft den Gürtel zur Seite und geht zu seiner Frau.

Die Frau von Michel Angelo aber ist ganz, ganz lang, so hoch wie zwei Zimmer.

Auf dem Weg trifft Michel Angelo auf Komarov, nimmt ihn bei der Hand und schreit: »Schau!«

Komarov schaut und sieht eine Kugel.

»Was ist das?«, flüstert Komarov.

Vom Himmel aber dröhnt es: »Das ist eine Kugel«.

»Was für eine Kugel denn?«, flüstert Komarov.

Vom Himmel aber ertönt das Gedröhn: »Eine Kugel mit glatter Oberfläche!«

Komarov und der Künstler Michel Angelo setzen sich ins Gras und sie sitzen im Gras, wie Pilze. Sie halten einander bei den Händen und schauen in den Himmel. Im Himmel aber zeichnet sich ein gewaltiger Löffel ab. Was soll denn das? Keiner weiß es. Die Menschen flüchten und schließen sich in ihren Häusern ein. Und sie verriegeln die Türen, und die Fenster. Aber kann das denn helfen? Wie wohl! Das hilft nicht.

Ich weiß noch, wie im Jahr 1884 am Himmel ein gewöhnlicher Komet von der Größe eines Dampfers erschien. Das war sehr schrecklich. Und jetzt – ein Löffel! Was ist schon ein Komet verglichen mit so einer Erscheinung.

Verriegelt die Fenster und die Türen!

Kann das denn helfen? Gegen eine Himmelserscheinung kann man sich nicht mit einem Brett schützen.

Bei uns im Haus wohnt Nikolaj Ivanovič Stupin. Er verficht die Theorie, dass alles nur Rauch sei. Meiner Meinung nach ist aber nicht alles nur Rauch. Vielleicht gibt es noch nicht einmal irgendeinen Rauch. Vielleicht gibt es überhaupt nichts. Vielleicht gibt es nur Aufteilungen. Vielleicht aber gibt es nicht einmal Aufteilungen. Schwer zu sagen.

Man sagt, dass ein berühmter Künstler einen Hahn betrachtete. Während er betrachtete und betrachtete, kam er zu der Überzeugung, dass der Hahn nicht existiert.

Der Künstler erzählt das seinem Bekannten und der Bekannte muss lachen. Wie soll er denn, sagt er, nicht existieren, wenn er, sagt er, gerade eben dort steht und ich ihn, sagt er, ganz genau beobachten kann.

Der große Künstler aber ließ den Kopf sinken, und so wie er da stand, setzte er sich auf einen Haufen von Ziegelsteinen.

aus

18. September 1934

 

Nr. 2

Hier ist eine Flasche Vodka, eine sogenannte Spirituose. Und daneben sehen sie Nikolaj Ivanovič Serpuchov.

Jetzt steigen aus der Flasche Spirituosendämpfe auf. Beachten sie, wie Nikolaj Ivanovič Serpuchov durch die Nase einatmet. Schauen sie, wie er sich die Lippen leckt und wie er die Augen zusammenkneift. Offensichtlich ist es ihm sehr angenehm und in der Hauptsache deshalb, weil es sich um eine Spirituose handelt.

Doch richten sie ihre Aufmerksamkeit einmal darauf, dass hinter dem Rücken von Nikolaj Ivanovič Serpuchov nichts ist. Dabei geht es nicht einmal darum, dass sich dort kein Schrank, oder eine Kommode oder etwas Derartiges befände, sondern dort ist überhaupt nichts, nicht einmal Luft. Ob sie es glauben oder ob sie es nicht glauben, doch hinter dem Rücken von Nikolaj Ivanovič Serpuchov gibt es nicht einmal einen luftleeren Raum oder, wie man so sagt, den Weltäther. Offen gesagt, dort ist nichts.

So etwas kann man sich natürlich nicht einmal vorstellen.

Aber darauf sei gespuckt, denn uns interessieren nur die Spirituose und Nikolaj Ivanovič Serpuchov.

Jetzt nimmt Nikolaj Ivanovič die Flasche mit der Spirituose in die Hände und führt sie zu seiner Nase. Nikolaj Ivanovič schnuppert und bewegt seinen Mund wie ein Karnickel.

Nun ist die Zeit gekommen zu sagen, dass nicht nur hinter dem Rücken von Nikolaj Ivanovič, sondern auch davor – sozusagen vor seiner Brust – und überhaupt ringsum nichts ist. Die völlige Abwesenheit jeglicher Existenz, oder wie man es einmal scharfsinnig ausdrückte: die Abwesenheit jeglicher Anwesenheit.

Wir jedoch wollen uns nur mit der Spirituose und mit Nikolaj Ivanovič beschäftigen.

Stellen sie sich vor, Nikolaj Ivanovič schaut tief in die Flasche mit der Spirituose hinein, dann führt er sie zu seinen Lippen, kippt die Flasche mit dem Boden nach oben in die Höhe und trinkt, stellen sie sich mal vor, die ganze Spirituose aus.

Wie geschickt! Nikolaj Ivanovič hat die Spirituose ausgetrunken und blickt sich völlig benommen um. Wie geschickt! Wie er das nur gemacht hat!

Doch wir sehen uns gezwungen, noch etwas hinzuzufügen: nur mal so unter uns gesagt, befand sich nicht nur hinter dem Rücken von Nikolaj Ivanovič oder vor ihm oder um ihn herum, sondern auch in ihm selbst – nichts, gar nichts existierte dort.

Es könnte natürlich so sein, wie wir es eben erzählt haben und Nikolaj Ivanovič könnte unter diesen Bedingungen eine zauberhafte Existenz führen. Das ist natürlich richtig. Aber, ehrlich gesagt, die Sache ist die, dass Nikolaj Ivanovič nicht existierte und nicht existiert. Darin liegt der Hund begraben.

Sie fragen: und wie ist das nun mit der Flasche und der Spirituose? Wohin ist eigentlich die Spirituose gelangt, wenn sie von einem nicht existierenden Nikolaj Ivanovič ausgetrunken wurde? Die Flasche, sagen wir mal, blieb übrig. Doch wo ist die Spirituose? Eben war sie noch, und plötzlich ist sie nicht mehr. Nikolaj Ivanovič existiert nämlich nicht, sagen sie. Wie kann das sein?

Hier verirren wir uns auch selbst im Labyrinthischen.

Übrigens, was haben wir noch einmal gesagt? Wir haben nämlich gesagt, dass sowohl innerhalb, als auch außerhalb von Nikolaj Ivanovič nichts existierte. Wenn aber sowohl innerhalb, als auch außerhalb nichts existiert, dann heißt das doch wohl, dass auch die Flasche nicht existiert hat? Ist das nicht so?

Doch, andererseits, richten sie einmal ihre Aufmerksamkeit auf das Folgende: wenn wir sagen, dass sowohl innerhalb, als auch außerhalb nichts existierte, dann stellt sich doch die Frage: innerhalb und außerhalb von was? Existiert denn offenbar überhaupt noch irgend etwas? Vielleicht existiert ja gar nichts. Warum reden wir dann überhaupt von »innerhalb« und von »außerhalb«?

Ja, hier sitzen wir offenbar in der Klemme. Und wir wissen selbst nicht mehr, was wir sagen sollen.

Auf Wiedersehn.

18. September 1934

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Übersetzung: Eric Boerner • © Illeguan 2003