[Djed-Pfeiler]

Der wiedererstandene Osiris

Kapitel II

Um nach dem Tode zu leben

In nächtlicher Einsamkeit glänzt
Die göttliche Scheibe des Mondes.
Richte dein Auge auf mich, gnädiges Licht!
Ich bin gestorben und gehe
Unter die Sterne, Planeten,
Gehe um dich zu begleiten …
Ich bin in Osiris gestorben
Und dringe wie er nach Belieben
Ein in die Landschaft der Toten,
Auch wo sich Lebende finden,
Mehr noch: Regionen des Himmels
Sind – wie ich's wünsche – mein Platz …



Kapitel X

Ein Zauberspruch gegen Feinde

Den Eintritt erzwing ich zum Himmel,
Zersprenge die himmlischen Pforten
Und schreite durchs irdische Rund.

Ich leite die mächtigsten Geister.
Die magischen Formeln der Meister,
Millionenfach spricht sie mein Mund.

Die Ihr Euch im Höllenschlund wälzt,
Als ewiger Herrscher der Welt
Tu ich keinen Ausweg Euch kund.



Kapitel XXI

Um die Sprache wiederzuerlangen

Lass mich dich grüßen, Herrscher des Lichts,
Der du erleuchtest die Finsternis hier.
Du strahlst in den Hallen des Todes, des Nichts!
Gereinigt, geheiligt erschein ich vor dir …

Aber was seh ich, du weist mich zurück,
Hinter dem Rücken verschränkst du die Arme,
Gib meinen Lippen die Sprache zurück,
Damit ich nicht länger unwürdig stammle!

Mir, der ich abstamme von deinen Ahnen,
Sei die Macht der Worte gegeben:
Dann wandelt mein Herz auf beliebigen Bahnen,
Wo jetzt nur die Nacht herrscht und finsterer Nebel …



Kapitel XXV

Um seine Erinnerung wiederzuerlangen

Wenn ich in der Hölle sitze,
Eingeschlossen von den Flammen,
Angesengt von Glut und Hitze,
Wo die Nacht währt jahrelang,

Gebt mir meinen Namen wieder,
Dass ich ewig mich erinnre,
Wie ich heiße. Gebt mir Geister
Bitte meinen Namen wieder!

Wenn ich meinen Namen kenne,
Sitze ich an Gottes Seite,
Lebe in des Ostens Helle,
In des klaren Himmels Weiten …

Seht nur, wie sich alle Götter
Nach meiner Bekanntschaft sehnen,
Denn ich kann, ohne zu stottern,
Meinen vollen Namen nennen.



Kapitel XLVII

Um seinen Thron in der Unterwelt zu bewahren

Die Unterwelt ist mein Zuhause,
Denn hier ist mein Thron aufgestellt.
Seht, ich vollende die Kreise,
Und nähere mich, und leise
Sprech ich die Worte gewählt:

»Ich wurde zu eurem Herrscher gemacht!
Kommt zu mir, ihr Götter, und folget mir nach!

Ich bin der Sohn dessen, der euch geschaffen,
Beim himmlischen Vater steht ihr im Dienst.
Um mir zu dienen, hat er euch erschaffen,
Nur darum wurde euch Dasein verliehn!«



Kapitel LXVIII

Um ins volle Tageslicht hinauszutreten

Die Pforten des Himmels stehn offen,
Die Pforten der Erde gehn auf,
Der Riegel der Unterwelt schiebt sich zurück …
Lasst mich in die Hallen des Jenseits hinein!

Die mich auf Erden beschützten,
Die unsichtbaren Arme,
Die meine Schritte gelenkt,
Sie öffnen sich weit in der Ferne …

Vor mir: mit Kanälen und Strömen ein Land,
Das ich, wie ich's wünsche, befahren kann.

Mein geborenes Herz, mein gewordenes Herz,
Ich bin dein Meister und Herr;
Ich bin der Herr meiner Arme und Beine,
Ich bin der Herr meines Munds,
Und ich beherrsche nun ganz meinen Körper.

Als Meister meiner Totenopfer,
Als Meister der Wasser, Meister der Luft,
Als Meister der Ströme und der Kanäle,
Meister der Erde und ihrer Gräben,
Als Meister all jener magischer Wesen,
Die in der Unterwelt schuften für mich,
Bewahre ich mir die vollkommene Herrschaft
Dessen, was mir auf Erden gehörte.

Wart ihr euch, göttliche Geister, nicht einig,
War dieses euer Ratschluss nicht:
»Er nehme Teil am ewigen Leben;
Er esse der Unterwelt heiliges Brot.«

Man reiche mir Dinge, wie ich sie ersehne!
Aus weißen Korn sei mein Brot gebacken,
Aus rotem Korn mein Bier gebraut,
Unter der Palme, dem Baume der Hathor,
Lass mich in heiliger Muße kauern.

Seht, wie die Herrin der Sonnenscheibe
Sich schnellen Schritts der Sonnenstadt naht;
Sie hält das heilige Buch in Händen,
Die hehren Worte, die Thoth einst verfasst:

Mein geborenes Herz, mein gewordenes Herz,
Ich bin dein Meister und Herr;
Ich bin der Herr meiner Arme und Beine,
Ich bin der Herr meines Munds,
Und ich beherrsche nun ganz meinen Körper.

Als Meister meiner Totenopfer,
Als Meister der Wasser, Meister der Luft,
Als Meister der Ströme und der Kanäle,
Meister der Erde und ihrer Gräben,
Als Meister all jener magischer Wesen,
Die in der Unterwelt schuften für mich,
Bewahre ich mir die vollkommene Herrschaft
Dessen, was mir auf Erden gehörte.


Werde ich nach links gewiesen,
Möchte ich nach rechts gelangen.
Werde ich nach rechts gewiesen,
Bin ich längst schon links gegangen.

Ich will wieder atmen an frischer Luft,
Aufrecht sitz' ich hier allein …
Die sprechende Zunge, der atmende Mund –
Sie sollen meine Führer sein!



Kapitel LXXVI

Um die Gestalt nach Wunsch zu verändern

Ich lenke die Schritte zu Gottes Thron,
Es brachte mich her ein geflügelter Geist.
Gelobt seist du, der du den Himmel durchziehst
Und mich erstrahlen lässt – in weißer Krone.

Nimm diese Krone in deinen Schutz!
Lass mich an deiner Seite leben!

Ihn, der zerstückelt war, hab ich gesammelt,
Setzte ihn wieder fast völlig zusammen,
Und nun erschaff ich die himmlische Bahn,
Und ich ziehe sie langsam entlang …



Kapitel LXXVII

Um sich in einen goldenen Falken zu verwandeln

Als goldener Falke entschlüpf ich dem Ei
Und flattre zum Himmel empor.
Als riesiger Falke flieg ich am Himmel,
Vier Ellen ist mein Rücken breit,
Smaragde des Südens leuchten die Flügel …

Aus meinem Sarg im Abendschiff
Steig ich zum Himmel empor
Und trage mein Herz, das lebendig ist,
Zu den westlichen Bergen und Hügeln,
Erreiche dort wieder das Morgenschiff;
Die göttliche Ordnung begreif und erfüll ich!

Die Götter verneigen sich, grüßen mich fröhlich.

Als goldener Falke mit Phönix-Kopf
Flieg ich zum Himmel empor.
Ra selbst hört meinen Worten zu.
Ihr uralten Götter, vom Himmel geboren,
Ihr Erstlinge der Göttin Nut!

Seht! Ich nehme bei euch Platz,
Bin stark und fest, von Kraft erfüllt,
Erblicke die weiten Eleusischen Felder,
Die mich ernähren, mit Leben erfüllen.

Geheiligt, vergeistigt erkenn ich das Glück,
Leb ich im Reichtum Eleusischer Felder,
Auch meine Kehle erhalt ich zurück
Und mein Verstand gehorcht wieder mir selber.



Kapitel LXXXVII

Um sich in eine Schlange zu verwandeln

Aus irdischen Tiefen kam ich gekrochen
Und schlängele mich unermessliche Jahre:
Ich lege mich schlafen – jeden Abend,
Erwache von Neuem – jeden Morgen …
In tausendjährigen Zyklen mich rundend
Werde ich wieder und wieder geboren.
Aus irdischen Tiefen kam ich gekrochen
Und bleibe auf ewig im Erdkreis gefangen.
Ich lege mich sterben – jeden Abend,
Erwache zum Leben – jeden Morgen …
In tausendjährigen Zyklen mich rundend
Werd' ich zu neuer Blüte geboren!



Kapitel XCV

Um sich Thoth zu nähern

Ich herrsche über die Stürme,
Ich schütze die göttliche Krone,
Tiefe Wunden schlägt mein Schwert!

Ich rette die göttlichen Geister,
Ich habe das Böse gemeistert,
Denn niedergemetzelt liegt Seth!

Ich schütze die göttliche Krone,
Die Götter haben gewonnen,
Die Feinde sind niedergemäht:

Thoths Arm hat inmitten der Stürme
Gesiegt mit dem göttlichen Schwert!



_______________
Thoth: Altägyptischer Gott der Weisheit und Schreibkunst,
mit Ibiskopf oder als Pavian dargestellt. Er gilt unter anderem
als Verfasser des Totenbuchs.



Kapitel CXXXV

Bei Neumond zu sprechen

Ich lenke und bändige himmlische Stürme.
Ich wickele Horus in schützende Binden.
Ich wurde ein gütiger Gott, bin Osiris,
Ich bin in verschiedensten Formen zu finden.

In den vom Schicksal bestimmten Stunden
Erhalte ich dankbar Opfergaben.
Mit vier hohen Göttern, in heiliger Runde,
Naht sich Ra; auf seiner Barke
Kommt er über den Himmel gefahren.

In der vom Schicksal bestimmten Stunde
Meine lange Fahrt begann.
An den hohen Mast gebunden,
Auf der Sonnenbarke schwankend
Fängt mein neues Dasein an.



Kapitel CLXXXVIII

Um in der Unterwelt in Menschengestalt zu erscheinen

      Ein heiliger Geist bist du nun geworden
      Und dringst in die Tiefen des göttlichen Augs,
      Auch deine Seele: Sie wurde heilig!
      Sieh nur, wie dich dein Schatten beschaut!

Meine Seele, sie soll mich betrachten,
Wenn man mich vor meine Richter gestellt,
In allen Gestalten, bei vollem Verstand,
In göttlicher Ganzheit, verkörpert, beseelt.

Meine Seele, sie soll mich betrachten,
Von Ra erleuchtet, im Tempel geheiligt,
Sie möge sich nahen, vom Schatten begleitet,
Nachdem über mich der Richtspruch gefällt!

Nun kann sie stehend und sitzend verweilen
Und meinen Körper wieder beseelen,
Der zu den Sternen als Gottheit enteilte,
In stetem Gehorsam Osiris Befehlen.

In steter Bewegung, bei Tag und bei Nacht,
Folgt sie den festlichen Rhythmen beständig,
In steter Bewegung, bei Tag und bei Nacht,
Folgt sie den Klängen und den Gesängen …



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Kapitel II
Um nach dem Tode zu leben
Kapitel X
Ein Zauberspruch gegen Feinde
Kapitel XXI
Um die Sprache wiederzuerlangen
Kapitel XXV
Um sich wieder zu erinnern
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Um seinen Thron zu bewahren
Kapitel LXVIII
Um ins Tageslicht hinauszutreten
Kapitel LXXVI
Um die Gestalt zu verändern
Kapitel LXXVII
Der goldene Falke
Kapitel LXXXVII
Metamorphose in eine Schlange
Kapitel XCV
Um sich Thoth zu nähern
Kapitel CXXXV
Bei Neumond zu sprechen
Kapitel CLXXXVIII
In Menschengestalt zu erscheinen

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