[Walt Whitman]

Walt Whitman (1819 – 1892)

Das Lied von mir selbst

XVIII

Ich nahe mit mächtigen Klängen, mit meinen Trompeten und Pauken,
Ich spiel meine Märsche nicht nur für die üblichen Sieger, ich spiele meine Märsche für die Eroberten und die Ermordeten.

Hat man dir gesagt, dass es gut sei den Tag zu pflücken?
Ich sage, dass es auch gut ist zu fallen, Schlachten werden in dem selben Geiste verloren, in dem sie gewonnen werden.

Ich schlage und trommle für die Toten,
Ich blase durch meine Mundstücke mein Lautestes und mein Fidelstes für sie.

Ein Hoch auf solche, die versagt haben!
Und auf solche, deren Kriegsschiffe in der See versanken!
Und auf solche, die selbst in der See versanken!
Und auf alle Generäle, die Kämpfe verloren, und alle unterlegenen Helden!
Und den zahllosen unbekannten Helden, die den größten bekannten Helden gleichen!


Das Lied von mir selbst

XXX

Alle Wahrheiten warten in allen Dingen,
Sie haben's nicht eilig, sich zu offenbaren, noch etwas dagegen,
Sie benötigen nicht die Geburtszange eines Chirurgen,
Der Unbedeutendste erscheint mir so groß wie jeder andere,
(Was könnte weniger, was könnte mehr sein als eine Berührung?)

Logik und Predigt kann nie überzeugen,
Die Feuchte der Nacht dringt tiefer in meine Seele.

(Nur was jeden Mann, jede Frau überzeugt, ist auch so,
Nur was niemand bestreitet, ist auch so.)

Eine Minute, ein Tropfen von mir regeln mein Hirn,
Ich glaube, dass feuchtnasse Soden zu Lämmern und Liebenden werden,
Die Essenz der Essenz ist das Fleisch eines Manns, einer Frau,
Und der Gipfel, die Blume dort ist, was sie für sich empfinden,
Und sie müssen sich unbeschränkt aus dieser Lehre entfalten, bis sie allumfassend geworden ist,
Bis einer und alle uns eine Freude sind, und wir für sie.


Dieser Kompost

I

Etwas erschreckt mich, wo ich mich am Sichersten glaubte,
Ich meide die stillen Wälder, die ich so liebte,
Ich werde nicht länger durchs Weideland streichen,
Ich werde nicht mehr meine Kleider abstreifen, meine Liebste zu treffen, die See,
Ich werde mein Fleisch zur Erde nicht legen, wie aufs Fleisch einer andern, um mich zu erneuern.

O wie kann es sein, dass der Boden selbst nicht erkrankt?
Wie könnt ihr lebendig sein, Frühlingsgewächse?
Wie könnt ihr gesund machen, ihr Säfte von Kräutern und Wurzeln, Getreide und Obst?
Werden nicht ständig verseuchte Leichen in dich gelegt?
Ist nicht jeder Erdteil durchwalkt und durchknetet mit bitterem Tod?

Wo hast du nur all die Kadaver gelassen?
Diese Säufer und Fresser unzähliger Generationen?
Wo lagerst du ab all die faulige Lymphe, das Fleisch?
Doch kann ich zur Zeit auf dir gar nichts entdecken, werde vielleicht getäuscht,
Ich will mit dem Pflug eine Furche ziehen, ich will mit dem Spaten die Grasnarbe öffnen, um sie von unten nach oben zu kehren,
Und sicherlich werd ich manch fauliges Fleischstück entdecken.

II

Seht diesen Kompost! betrachtet ihn gut!
Jegliches Würmchen war vielleicht einmal Teil eines Kranken – seht hin!
Das Frühlingsgras wuchert auf den Prairien,
Die Bohne bricht lautlos durch die Gartenerde,
Der leckere Speer der Zwiebel stößt aufwärts,
Die Apfelblüten rotten sich auf den Apfelzweigen zusammen,
Die Auferstehung des Weizens erscheint bleichgesichtig aus seinen Gräbern,
Die Färbung erwacht über Weiden und Maulbeerbäumen,
Die Vogelmännchen zwitschern morgens und abends, während die Vogelweibchen auf ihren Nestern sitzen,
Die Küken des Geflügels picken sich aus den bebrüteten Eiern,
Die neugeborenen Tiere erscheinen, die Kuh wirft das Kalb, die Stute das Fohlen,
Aus ihren kleinen Hügeln steigen zuversichtlich der Kartoffeln dunkelgrüne Blätter,
Aus seinen Hügeln steigt der gelbe Maisstengel, der Flieder blüht in den Vorgärten,
Das Grünen des Sommers steht arglos, verächtlich über all diesen Schichten bitteren Todes.

Welch eine Chemie!
Dass die Winde uns tatsächlich nicht infizieren,
Dass das kein Betrug ist, diese transparente grüne Spülung der See, die mir so liebevoll folgt,
Dass es gefahrlos ist, sie meinen nackten Körper mit ihren Zungen allüberall belecken zu lassen,
Dass sie mich nicht in Gefahr bringt mit jenen Fiebern, die sich in ihr angereichert haben,
Dass alles so rein bleibt auf immer und ewig,
Dass das kühle Getränk der Brunnen so gut schmeckt,
Dass die Brombeeren saftig und wohlschmeckend sind,
Dass die Früchte der Apfelgärten und der Orangengärten, dass Melonen, Trauben, Pfirsiche, Pflaumen, dass keines davon mich vergiften wird,
Dass ich, im Gras ausgestreckt, keinerlei Krankheit bekomme,
Obwohl jeder Grashalm wahrscheinlich entsteigt aus einer Erkrankung, die ansteckend war.

Jetzt bin ich verängstigt an der Erde, die ruhig ist, und geduldig,
Sie lässt solch süße Dinge aus solcher Verwesung erwachsen,
Dreht sich harmlos und rostfrei um ihre Achse, mit endlosen Abfolgen kränkelnder Körper,
Sie gewinnt solch ausgezeichnete Winde aus solchem verströmten Pesthauch,
Sie erneuert mit solch harmlosem Anschein ihre verschwenderischen, jährlichen, üppigen Früchte,
Sie überlässt solch göttliche Stoffe den Menschen, und nimmt solche Rückstände letztlich von ihnen zurück.

1856


Als hätte ein Geist mich berührt

Als hätte ein Geist mich berührt:
Ich dachte, ich wär nicht allein hier beim Schlendern am Strand;
Doch der eine, von dem ich dachte, er ginge mit mir jetzt am Strand, der eine Geliebte, der mich berührte,
Als ich angelehnt schaute durch schimmerndes Licht, der eine ist völlig entschwunden,
Und die mir begegnen sind hasserfüllt, ziehen mich auf.

1860


Den alten Zeiten

Ich sehe euch als eine Flussmündung, die sich großartig weitend verbreitert, während sie selbst in den Ozean strömt.

1860


Ich sitze und halte Ausschau

Ich sitze und schaue hinab auf alle Leiden der Welt, und auf alle Unterdrückung und Schande,
Ich höre das heimliche krampfhafte Schluchzen junger Männer in Selbstverzweiflung, reumütig nach begangenen Verbrechen,
In der Unterschicht seh ich die Mutter missbraucht von ihren Kindern, sterbend, verwahrlost, verhärmt und verzweifelt,
Ich sehe die Frau vom Gatten missbraucht, ich sehe den perfiden Verführer junger Mädchen,
Ich erkenne die Qualen der Eifersucht und unerwiderter Liebe, die man versucht zu verbergen, ich seh diese Dinge auf Erden,
Ich sehe die Arbeit von Seuchen und Kämpfen, die Tyrannei, ich sehe Märtyrer und Häftlinge,
Ich beobachte eine Hungersnot auf See, ich beobachte die Seeleute, wie sie darum losen, wer getötet werden wird, den andern das Leben zu verlängern,
Ich beobachte die Verachtung und Erniedrigung durch überhebliche Personen gegen Arbeiter, gegen die Armen, und gegen Neger und vergleichbare Menschen;
Nach allem diesem – nach all dieser endlosen Gemeinheit und den Todesqualen halte ich sitzend Ausschau,
Sehe, höre und schweige.

1860


Vollendungen

Nur die sich selbst sind, verstehen sich selbst und jene, die sind, wie sie selbst,
Wie Seelen nur Seelen verstehen.

1860


Song of Myself

XVIII

With music strong I come, with my cornets and my drums,
I play not marches for accepted victors only, I play marches for conquer'd and slain persons.

Have you heard that it was good to gain the day?
I also say it is good to fall, battles are lost in the same spirit in which they are won.

I beat and pound for the dead,
I blow through my embouchures my loudest and gayest for them.

Vivas to those who have fail'd!
And to those whose war-vessels sank in the sea!
And to those themselves who sank in the sea!
And to all generals that lost engagements, and all overcome heroes!
And the numberless unknown heroes equal to the greatest heroes known!


Song of Myself

XXX

All truths wait in all things,
They neither hasten their own delivery nor resist it,
They do not need the obstetric forceps of the surgeon,
The insignificant is as big to me as any,
(What is less or more than a touch?)

Logic and sermons never convince,
The damp of the night drives deeper into my soul.

(Only what proves itself to every man and woman is so,
Only what nobody denies is so.)

A minute and a drop of me settle my brain,
I believe the soggy clods shall become lovers and lamps,
And a compend of compends is the meat of a man or woman,
And a summit and flower there is the feeling they have for each other,
And they are to branch boundlessly out of that lesson until it becomes omnific,
And until one and all shall delight us, and we them.


This Compost

I

Something startles me where I thought I was safest,
I withdraw from the still woods I loved,
I will not go now on the pastures to walk,
I will not strip the clothes from my body to meet my lover the sea,
I will not touch my flesh to the earth as to other flesh to renew me.

O how can it be that the ground itself does not sicken?
How can you be alive you growths of spring?
How can you furnish health you blood of herbs, roots, orchards, grain?
Are they not continually putting distemper'd corpses within you?
Is not every continent work'd over and over with sour dead?

Where have you disposed of their carcasses?
Those drunkards and gluttons of so many generations?
Where have you drawn off all the foul liquid and meat?
I do not see any of it upon you to-day, or perhaps I am deceiv'd,
I will ran a furrow with my plough, I will press my spade through the sod and turn it up underneath,
I am sure I shall expose some of the foul meat.

II

Behold this compost! behold it well!
Perhaps every mite has once form'd part of a sick person — yet behold!
The grass of spring covers the prairies,
The bean bursts noiselessly through the mould in the garden,
The delicate spear of the onion pierces upward,
The apple-buds cluster together on the apple-branches,
The resurrection of the wheat appears with pale visage out of its graves,
The tinge awakes over the willow-tree and the mulberry-tree,
The he-birds carol mornings and evenings while the she-birds sit on their nests.
The young of poultry break through the hatch'd eggs,
The new-born of animals appear, the calf is dropt from the cow, the colt from the mare,
Out of its little hill faithfully rise the potato's dark green leaves,
Out of its hill rises the yellow maize-stalk, the lilacs bloom in the dooryards,
The summer growth is innocent and disdainful above all those strata of sour dead.

What chemistry!
That the winds are really not infectious,
That this is no cheat, this transparent green-wash of the sea which is so amorous after me,
That it is safe to allow it to lick my naked body all over with its tongues,
That it will not endanger me with the fevers that have deposited themselves in it,
That all is clean forever and forever,
That the cool drink from the well tastes so good,
That blackberries are so flavorous and juicy,
That the fruits of the apple-orchard and the orange-orchard, that melons, grapes, peaches, plums, will none of them poison me,
That when I recline on the grass I do not catch any disease,
Though probably every spear of grass rises out of what was once a catching disease.

Now I am terrified at the Earth, it is that calm and patient,
It grows such sweet things out of such corruptions,
It turns harmless and stainless on its axis, with such endless successions of diseas'd corpses,
It distills such exquisite winds out of such infused fetor,
It renews with such unwitting looks its prodigal, annual, sumptuous crops,
It gives such divine materials to men, and accepts such leavings from them at last.

1856


As If a Phantom Caress'd Me

As if a phantom caress'd me,
I thought I was not alone walking here by the shore;
But the one I thought was with me as now I walk by the shore, the one I loved that caress'd me,
As I lean and look through the glimmering light, that one has utterly disappear'd,
And those appear that are hateful to me and mock me.

1860


To Old Age

I see in you the estuary that enlarges and spreads itself grandly as it pours in the great sea.

1860


I Sit and Look Out

I sit and look upon all the sorrows of the world, and upon all oppression and shame,
I hear secret convulsive sobs from young men at anguish with themselves, remorseful after deeds done,
I see in low life the mother misused by her children, dying, neglected, gaunt, desperate,
I see the wife misused by her husband, I see the treacherous seducer of young women,
I mark the ranklings of jealousy and unrequited love attempted to be hid, I see these sights on the earth,
I see the workings of battle, pestilence, tyranny, I see martyrs and prisoners,
I observe a famine at sea, I observe the sailors casting lots who shall be kill'd to preserve the lives of the rest,
I observe the slights and degradations cast by arrogant persons upon laborers, the poor, and upon negroes, and the like;
All these – all the meanness and agony without end I sitting look out upon,
See, hear, and am silent

1860


Perfections

Only themselves understand themselves and the like of themselves,
As souls only understand souls.

1860


<<Illeguan

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